über Jeremia 1, 4-10

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,

endlich ist es soweit. Zwei Dinge gibt es am heutigen Tag zu feiern: Zum einen, dass Sie wieder einen Pfarrer haben, zum anderen aber auch, dass ich selbst endlich eine Pfarrstelle versehen darf. Zwei gewichtige Gründe, sich zu freuen und diesen Tag als einen Festtag zu begehen.

Nur, was erwarten Sie nun von dieser Predigt? In der Politik ist es ja üblich, dass Funktionsträger – und nichts anderes ist ein Pfarrer in einer reformierten Gemeinde - in ihrer ersten Rede nach einer Wahl etwas Grundsätzliches sagen. Warum also nicht solches auch an dieser Stelle? Oder aber man erzählt etwas Persönliches – den einen oder anderen Schwank aus der Jugend.

Und ohne mich selbst zu wichtig zu nehmen, so möchte ich dann doch zunächst bei mir selbst anfangen. In der Theologie gibt es den Merksatz „a minorem ad majorum“ zu Deutsch: vom Kleinen auf das Große schließen. Mal schauen, ob mir dies gelingen wird.

Schon früh keimte in mir der Wunsch, Pfarrer zu werden. Ich hatte kein Gotteserlebnis und Jesus saß auch nicht auf meiner Bettkante, um mich zu berufen. Aber dieser Wunsch – nennen wir es Berufung - ließ mich nicht los, er wurde stärker und schließlich begann ich, das Studium aufzunehmen. Dabei ging es mir weniger um die wissenschaftliche Theologie, sondern vielmehr um die Menschen und ihre Geschichte mit Gott.

Und je mehr ich studierte und mich in einzelnen Kirchen ausprobieren durfte, desto mehr erfuhr ich auch etwas von der Geschichte Gottes mit uns Menschen – eine Geschichte, die seit Anbeginn der Zeit bis heute nicht abgerissen ist und bis zur Ewigkeit hin andauern wird.

Was aber ist Gottes Geschichte mit uns Menschen? Es ist eine Geschichte, die durch Höhen und Tiefen geht, Enttäuschungen aushalten muss, aber immer wieder bereit für einen Neuanfang ist. Gottes Geschichte mit uns Menschen lässt sich Zeit – vielleicht sind wir manches Mal zu ungeduldig mit Gott. Zeit aber, die wir alle nötig haben, um uns selbst kennen zu lernen, den anderen, ja, die Welt, die wir so oft zu erobern versuchen.

Im Studium erschließt sich ein unendlicher Schatz an Wissen und im Vikariat kommt dann ein klein wenig Lebenserfahrung hinzu. Man entwickelt seine Standpunkte und Theorien, muss aber doch schnell feststellen, dass diese in der Praxis nicht immer haltbar sind. Was möchte ich aus dieser Erfahrung Menschen mit auf dem Weg geben?

Vor allem eines: Es lohnt sich, um eine Erkenntnis zu ringen, aber um der Menschen willen ist es manches Mal auch wichtig, vermeintliche Wahrheiten über Bord zu werfen. Toleranz bedeutet das Wissen, dass vielleicht der andere Recht hat und man selbst falsch liegen könnte.

Viele Menschen haben mich geprägt und ich möchte kein Geheimnis daraus machen, dass mich auch viele Konfessionen in meiner Frömmigkeit beeinflusst haben. Mir hat sich die Welt der konfessionellen Vielfalt mit einem reichen Erbe geöffnet und ein klein wenig davon möchte ich auch mit hierher bringen.

Doch wie kam ich eigentlich zu Ihnen? Nach dem Vikariat hatte ich die Möglichkeit, in Frankfurt im evangelischen Medienhaus in der Marketingabteilung zu arbeiten und mich fortzubilden. Und obwohl es ein angenehmes Arbeitsklima mit einmaligen Kolleginnen und Kollegen war – und wohl immer noch so ist: Der Wunsch auf ein eigenes Pfarramt war damit nicht gestillt.

Als mir dann ein Pfarrer den Hinweis gab, hier in Hanau würde bei den „Wallonen“ ein Pfarrer gesucht, ergriff ich sofort die Gelegenheit, setzte mich mit der Gemeinde in Verbindung und brachte nur wenige Tage später meine Bewerbungsunterlagen in das Pfarrbüro. Mein Anschreiben beendete ich mit einem Zitat aus dem Propheten Jeremia. Im Zusammenhang lese ich nun den Predigttext für den heutigen Tag:

 

Predigttext aus Jeremia 1, 4-10

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN, Ich sonderte dich aus, ehe Du geboren wurdest (V.5). Auf den ersten Blick erschrecke ich vor diesem Wort: Aussondern. Wer möchte schon gerne aus der Masse ausgesondert, ins Abseits gedrängt werden? Wer möchte schon derjenige sein, der nirgends dazu gehört und zum Einzelgänger wird? Aber ich habe wohl das Wort „aussondern“ mit „aussortieren“ verwechselt.

Ich wage einmal eine andere Lesart: Gott hat mit jedem einzelnen Menschen von uns, die wir uns heute hier versammelt haben, seinen ganz besonderen Weg, seine ganz besondere Geschichte. Das möchte ich von dieser Kanzel verkündigen: Es ist ein Geschenk, wenn wir Menschen wissen: Ich bin etwas Besonderes, ein Original, einzigartig. Vielleicht nehmen Sie sich einmal Zeit, um sich bewusst zu machen, welchen besonderen Weg Gott mit Ihnen bisher gegangen ist.

Und dann stehen da die Verse, welche ich auch in meiner Bewerbung zitiert habe: „Ich aber sprach: Ach, HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.“ (V.6-8)

 

Liebe Gemeinde!

Ihr Konsistorium hat viel Mut bewiesen, einen Menschen am Anfang seines Berufslebens in das Amt Ihres Gemeindepfarrers zu wählen. Als die Wahl auf mich gefallen ist, war ich selbst überrascht, dass eine so altehrwürdige Gemeinde es mit einem so jungen Chaoten wie mir versuchen möchte. Da gingen mir nochmals die Worte Jeremias durch den Kopf. „Ich bin doch zu jung!“.

Aber – und das ist der Trost dabei: Gott kennt mich besser, als ich mich selbst kenne. Deshalb stellt er uns gelegentlich auch vor Aufgaben und Herausforderungen, von denen wir uns vielleicht grenzenlos überfordert fühlen. Und gerade dann, wenn wir Menschen vor scheinbar viel zu großen Aufgaben stehen, kann uns der Zuspruch Gottes an Jeremia ein Trost sein: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir!“ (V.8)

„Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.“ (V.9) Wenn wir dies im Alltag erleben, dass jemand dem anderen nach dem Mund redet oder sich beeinflussen lässt, dann ist es schwierig, damit umzugehen. Noch schlimmer ist die Erfahrung, dass mir jemand das Wort im Mund herumdreht. Bei Gott ist es aber anders. Denn für mich selbst habe ich den Wunsch, dass Gott mir seine Worte in den Mund legt, dass er mir die richtigen Worte gibt im richtigen Moment für den richtigen Menschen, wenn es darauf ankommt. So kann jede Predigt, jedes Gespräch zur Gottesrede werden.

Nicht nur zu großen Propheten wie Jeremia spricht Gott. Jeder Mensch, auch Sie und ich, sind von Gott mit einer Bestimmung in dieses Leben geschickt worden. Irgendetwas will Gott mit jedem Einzelnen von uns. Er hat einen Traum, den er uns in unser Herz gelegt hat. Haben Sie ihn schon für Ihr Leben entdeckt?

Wenn wir Gott vertrauen, ihm vieles zutrauen und versuchen herauszufinden, was Gott mit uns vorhat, dann geht es um unseren Lebensweg. Aber das Land, das vor uns liegt, besteht nicht nur aus Sonnenschein. Vieles wird ernst sein oder werden. Aber die Hauptsache dabei wird sein, dass ein jeder seinen eigenen Weg geht, authentisch, ehrlich und glaubwürdig. Oder um es mit einem reformierten Mystiker aus Zürich zu sagen, Johann Casper Lavater: „Lege in alles etwas von dir und dem Gott, dem du dienst!“

„A minorem ad majorem” – vom Kleinen auf das Große schließen. Sie haben es wohl schon gemerkt. Ich bin schon längst bei dem Grundsätzlichen angelangt. Was für mich gilt, meine Träume und Visionen von einer Gemeinde, diese teile ich vielleicht mit Ihnen – wie ich hoffe. Eine Gemeinde ist für mich der Ort, wohin Menschen kommen sollen, wenn sie mit ihrem Leben in eine Schieflage gekommen sind, wenn die Zweifel zu groß geworden sind, wenn sie Ruhe und Geborgenheit suchen.

Und gemeinsam können wir dann nach einer neuen Perspektive suchen, nach einem Weg, der aus der Krise herausführt. Und vielleicht werden auch wir es hier erleben, wie ich hoffe: die kleinen Wunder mitten im Alltag - wo Menschen vielleicht einen neuen Job finden, zwei Liebende endlich zueinander, Schmerzen und Trauer gelindert werden und vieles mehr!

 

Dabei habe ich aber auch zwei Bitten an Sie! Zum einen: Geben Sie mir Zeit! Ich brauche Zeit, mich an die Gemeinde zu gewöhnen und mich in ihr auszukennen. Ich werde Sie nicht gleich alle mit Namen ansprechen können und werde in vielem auf die Hilfe und Auskunftsfreudigkeit anderer angewiesen sein. Vor allem aber muss ich mich erst in Ihre Tradition einarbeiten.

Was ist eigentlich Tradition? Ein kluger Mann hat einmal gesagt: Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers! In diesem Fall: die Weitergabe der Begeisterung für den Glauben, die dereinst reformierte Wallonen und Niederländer hierher nach Hanau geführt hat.

Und um es mit einem meiner langjährigen Vorgänger, Herrn Dr. Pribnow, zu sagen: „Die wahre und bleibende Bedeutung der reformierten Kirchen für die Christenheit liegt in der Einsicht und dem Impuls: Nicht der geweihte Priester und nicht der beamtete Prediger bauen das Reich des HERRN, die Glaubenden bauen es alle miteinander als lebendige Steine. [...] und diese lebendigen Steine geben auch dem steinernen Gotteshaus warmes Leben.“

Zum anderen mein zweiter Wunsch: Lassen Sie mir Raum! Von jetzt auf gleich eine öffentliche Person zu werden, macht nicht nur freudige Gefühle. Ich habe Angst davor, das Gefühl haben zu müssen, ständig beobachtet zu werden – selbst wenn es wahrscheinlich gar nicht so ist. Oder dass ich etwas falsch machen könnte. Und seien Sie bitte nachsichtig mit meinen Eigenarten und Ideen, meinen Phantasien und Visionen – wer jung ist, will sich eben noch austoben.

Vieles liegt vor uns, aber gemeinsam sind wir auf dem Weg. Was wird das Morgen bringen? Haben wir Angst vor Veränderungen? Der Zuspruch Gottes an Jeremia gilt für uns alle, ob jung, ob alt. Gott wagt es mit uns und vertraut uns. Seine Zusage gilt, dass er mit jedem von uns seinen Plan hat. Lassen wir uns darauf ein!

„Gestern stand ich am Abgrund meines Lebens und Gott sprach zu mir: „Spring!“ Ich sagte ihm: „HERR, ich könnte hinabstürzen!“ Und Gott sprach: „Spring!“ „Aber ich habe Angst!“ „Trau Dich und spring hinein ins Leben!“ Ich zögerte und Gott gab mir einen Stoß. Und ich sprang - und ich flog – hinein in das pralle Leben!

„Die auf den HERRN aber vertrauen, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht ermüden.“ (Jes. 40, 31)

Torben W. Telder, Pfarrer