Predigttext: 1. Petrus 2, 3-7a

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN, 410 Jahre ist es her, seit durch Kapitulation in Hanau wallonische und niederländische Glaubensflüchtlinge ihre Gemeinden gründen durften. Unter Kapitulation versteht man einen Vertrag, bei welchem der eine Partner dem anderen eine feste Zusage macht. In dem Fall unserer Gemeinden war es Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, der am 1. Juni 1597 mit den Vertretern der Emigranten einen solchen Vertrag schloss. Dieser wurde zum Gründungsdokument unserer Gemeinden, die fortan freiheitlich ihre Religion ausüben durften.

Soweit die Geschichte damals. Viel wichtiger ist nämlich eine andere Kapitulation, jene, die uns hier in drei Sprachen an der Empore in Stein gemeißelt, zugesichert wird. „Christus spricht: Ich bin bei Euch alle Tage, bis zum Ende (niederl.: zur Vollendung) der Welt.“ Christus selbst war und ist es, der uns diese Kapitulation in der Taufe zugesprochen hat und ein verlässlicher Vertragspartner in unserem Leben ist – selbst dann und dort, wo wir untreu und vergesslich werden, geworden sind.

In Stein gemeißelt, zur Erinnerung für nachfolgende Generationen. Es ist menschliche Sitte, Denkmäler zu errichten und Gedenktafeln aufzuhängen. Und wo die Botschaft nicht durch ein Bild dargestellt werden kann, wird es in Stein oder einem anderen vermeintlich zeitlosen Material als Text gehauen. So wie bei uns hier an der Empore, oder wie die 95 Thesen Luthers an der Schlosskirche zu Wittenberg. Steinerne Zeugen vergangener Zeiten.

Unsere Doppelkirche ist auch eine Zeugin vergangener Zeiten, aber sie ist vor allem eine Zeugin der Gegenwart. Selbst die Zerstörung im Krieg konnte ihr nur äußerlich etwas anhaben, sie wurde wieder aufgebaut und bis heute ist sie eine Stätte der Begegnung: mit Gott und den Menschen. Und so dürfen wir uns freuen – denn es ist keine Selbstverständlichkeit – dass wir ein so schönes Gotteshaus haben dürfen. Dass Gott uns hier in seinem Wort und seinem Sakrament nahe kommt, dass er hier in unserer Mitte ist.


Wenn wir den Putz von den Wänden abschlagen würden oder wenn Sie einmal aufmerksam die Mauern im Inneren des Diakoniezentrums betrachten, dann würden Sie keine gleichmäßigen Steine sehen. Sie entdecken, dass unterschiedliche Steine und Steinarten in dieser Kirche verbaut wurden. Und so verschieden die Steine auch sein mögen, sie alle haben ihren Platz hier in dieser Kirche gefunden. Jeden einzelnen Stein konnte man für irgendeine Stelle gebrauchen. Mit Mörtel untereinander verbunden, tragen sie das Ganze und bilden so unsere Kirche.

Dabei hat nicht nur jeder einzelne Stein seinen Platz, sondern auch seine Aufgabe. Die einen sind an der Außenwand der Witterung und den Stürmen ausgesetzt, die anderen haben im geschützten Innenraum ihren Platz. Mancher trägt eine schwere Last und ein anderer ist bloße Zier. Ohne sie gäbe es aber nicht unsere Kirche, in dieser Form.

Und mitten in dieser Kirche finden sich andere Steine, manche noch unbehandelt, manche schon mit Spuren vergangener Zeiten. Es sind lebendige Steine, Steine aus Fleisch und Blut. Es sind Sie und ich. Lebendige Steine, bereit zur Auferbauung der Gemeinde Gottes.

Wie verschiedenartig ist doch jeder von uns, schon in der äußeren Gestalt unverwechselbar; innerlich ist jeder ausgestattet mit seinen besonderen Eigenarten, seinen verschiedenen Anlagen, Fähigkeiten. Jeder von uns hat seine eigene Geschichte und ist von ihr geprägt. Einige kommen aus alteingesessenen Familien, viele aus der hiesigen Gegend, andere sind von weither zugezogen. Jeder ist geprägt von seiner Familie und seinem Beruf; von den Erfahrungen seines Lebens und von seinem bisherigen Glaubensweg. Der eine ist gebrannt im Feuer seiner Leiden, der andere geformt und geschliffen von seinem Schicksal.

So verschieden wir auch sind, Gott hat uns alle in der Taufe berufen zum Aufbau seiner Kirche. Dies ist eine Bedingung dieser göttlichen Kapitulation. Er kann uns alle gebrauchen. Die Frage ist nur: wollen wir uns gebrauchen lassen, als lebendige Steine? Die Kirche als Baudenkmal wäre nichts, wenn sie nicht von innen her mit uns als lebendige Steine und Mauerwerk mit Leben gefüllt werden würde. Erst der Dienst an Gott und den Menschen gibt der Kirche Sinn und Berechtigung.

Wie Gemeinde gebaut wird und wie Kirche wachsen kann, überlegen heutzutage viele kluge Menschen. Auch wir haben das zu überlegen. Aber vor allem, und das macht dann einen geistlich klugen Menschen aus, haben wir zu hören. Zu hören auf Gott und sein Wort, denn er hat schon längst angefangen zu bauen.

Darum steht im Predigttext: „Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.“ Der Eckstein ist gelegt. Der Plan steht, die Umrisse sind klar, wenn der Eckstein liegt.

Jesus Christus ist der Eckstein. Gott, der HERR, der Schöpfer dieser Welt, des Himmels und der Erde, er ist der Bauherr unseres geistlichen Hauses. Er hat den Plan, einen Traum, eine Vision. Das heißt viel für unsere Gemeinde. Das gibt Inhalte vor. In den verschiedenen Angeboten, die wir haben oder von denen wir träumen, müssen auch Gottes Wort und das Gebet vorkommen, sonst wird am Eckstein vorbei gebaut und alles wird krumm und schief. Am Eckstein Jesus Christus muss sich auch unser Umgang miteinander ausrichten.

Einander in Liebe begegnen, sich miteinander versöhnen, das Wohl des anderen suchen und nicht das eigene Recht, das sind herausragende Liebesleistungen, zu denen uns Jesus Christus aufruft. Am Eckstein Jesus Christus muss sich auch unser Umgang mit denen ausrichten, die nicht von sich aus in unser Gemeindehaus kommen. Dass wir einladen wie er, liebevoll, gewinnend. Dass wir auf die Menschen zugehen. Denen, die in Not sind, helfen. Denen, die auf der Suche sind, einen Weg zeigen und vieles mehr.

Wir haben den Auftrag von ihm zum Schluss unseres Textes, dass wir „verkündigen sollen die Wohltaten dessen, der uns berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.“ Eine Gemeinde, die ihr geistliches Haus am Eckstein Jesus Christus ausrichtet, verkündigt das Evangelium in Wort und Tat, sie lebt in der Liebe Jesu Christi und gibt diese Liebe weiter.

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN, ein geistliches, lebendiges Haus zu sein, dieses Wort, dieser Vergleich soll und muss Programm für unsere Gemeinde sein, da braucht es gar nichts anderes mehr. Und jeder von uns, die wir heute hier sind, soll ein solcher Stein für unsere Gemeinde sein.

Jeder von uns wird als lebendiger Stein gebraucht. Und das sind ganz schön viele, mehr, als sie hier heute Morgen sehen können. Denn unsere Kirchengemeinde besteht ja zur Zeit aus ca. 1150 Mitgliedern, Tendenz steigend. Das alles ist das Baumaterial, aus dem das prächtige Gotteshaus entstehen soll. Gott ist der Baumeister. Er macht uns zu lebendigen Steinen im Glauben an ihn. Nur so haben wir die Kraft und Energie, die wir brauchen, um miteinander Gemeinde zu bauen. Es ist nicht so, dass wir mühsam nach Kraft suchen müssten, mühsam Stein auf Stein setzen, Schritt für Schritt Konzepte entwickeln müssten. Nein, wir dürfen fröhlich voran gehen und fragen: HERR, was ist dran?

Sicher, wie auf jeder anderen Baustelle auch, geht nicht immer alles so glatt von der Hand, wie vielleicht gedacht. Jede hat ihren Arbeitsbereich. So gibt es auch in der Gemeinde verschiedene Begabungen. Keiner kann alles. Aber jeder kann etwas. Und das ist wichtig zu sehen. Und wichtig, damit zu arbeiten.

Wenn jeder etwas zu sagen hat, kommt keine Gemeinde vorwärts. Wenn wir aber Menschen haben, die in bestimmten Arbeitsbereichen sich auskennen, die Leitung übernehmen und andere mit ihnen anpacken, dann kommen wir auch in der Gemeinde so vorwärts wie beim Bau. Ich möchte an dieser Stelle auch Werbung machen, dass Sie sich – wenn Sie es denn nicht schon tun – in den Gremien und Gruppen dieser Gemeinde engagieren.

Wer Gemeinde zum Wachsen bringen will, darf sich nicht an seinen Eitelkeiten festhalten. Es braucht Geduld, Vergebung, Gespräche, Klärung der Situation und Klarheit für die nächsten Schritte. Damit das Ziel nicht verloren geht. Und zudem sind wir ja lebendige Steine, von Jesus Christus lebendig gemacht zur Liebe und zur Vergebung.

In seiner Predigt anlässlich des Gemeindegründungfestes 1957 hat mein Amtsvorgänger Dr. Pribnow noch inmitten der Ruinen bemerkenswerte Sätze gesagt, wenn er von der Zukunft der Kirche spricht. Ich möchte sie Ihnen mit auf den Weg geben und uns allen ins Gedächtnis schreiben: „Kirchen neigen dazu, dass sie das Seelenbrot hart werden lassen, steinhart, so dass es seinen Geschmack und fast seinen Charakter verliert und die einen es verachten, während die anderen – die Gutwilligen – sich die Zähne daran ausbeißen. Das geschieht dann, wenn die Kirchen – vielleicht um sicher zu gehen – aus fester Tradition leben wollen anstatt aus lebendigem Glauben; wenn die, die mit diesem [Seelen]brot umzugehen haben, sich – vielleicht um sicher zu gehen – dem geschriebenen Buchstaben verschreiben anstatt dem Walten des immer neuen, immer jungen, aber immer unberechenbaren Gottesgeistes.“ (Chronik S. 48)

Dass dieser neue, junge und unberechenbare Gottesgeist bei uns wirkt, dies ist meine Hoffnung für diese Gemeinde. Mein Traum ist es, dass Sie alle sich gebrauchen lassen als lebendige Steine. Vielleicht gehen Sie einmal in sich, welche Gabe Sie in diese Gemeinde einbringen können. Schreiben Sie sie auf einen Zettel, damit Sie sie nicht vergessen und pinnen sie ihn irgendwo an, damit Sie ihn nicht übersehen können. Und wenn sie es leid sind, immer nur auf den Zettel zu schauen, dann reißen Sie ihn ab und kommen zur Gemeinde und wir werden eine Gelegenheit finden, wo Sie ihre Begabung einbringen können.

Auf einem Kalenderblatt fand ich einmal einen einprägsamen Sinnspruch:„Du siehst Dinge und fragst: Warum? Ich aber träume vonDingen und sage: Warum nicht!“ „So auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause!“ Laßt uns nicht müde werden, vieles gibt es zu tun und vieles haben wir schon erreicht. 410 Jahre liegen hinter uns. Noch aber ist der Bau nicht abgeschlossen. Gott segne das Werk unserer Hände nach dem Reichtum seiner Gnade – „und siehe, ich bin bei Euch alle Tage, bis an das Ende (niederl.: zur Vollendung) der Welt!“ Gott schütze uns und unser Land! Amen.