in der wallonischen Kirche am 1. November 2009.

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN, liebe Gäste,

nachdem meine liebe Kollegin, Pfarrerin Lübke, im ersten Teil dieser Predigt über das Anliegen der Reformation und innere Bedeutung für uns persönlich gesprochen hat, möchte ich nun den Bogen zu unserer Kirche als Gemeinde schlagen. Dieser Bogen umschließt die Vergangenheit, die Gegenwart und soll auch die Zukunft nicht außer Acht lassen.

Das Lied, das wir eben miteinander gesungen haben, ist ein altes Wallfahrtslied des wandernden Gottesvolkes zum Zion, hinauf nach Jerusalem. „Durst und Staub der langen Reise, wer denkt daran noch zurück?” Zwei Mal wurde das Volk Israel in die Verbannung verschleppt, einmal gen Ägypten und einmal gen Babylonien.

Doch in ihren Herzen blieb der Wunsch und das Ziel lebendig: eines Tages wieder in Jerusalem zu leben und im Tempel des HERRN zu beten. Diesen Glaubenswunsch konnte auch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels nicht auslöschen. Und so sang das Gottesvolk, ja es singt bis heute: dieses eine Lied, immer wieder: „In deinen Toren werde ich stehen, du freie Stadt Jerusalem!”

Eineinhalb Jahrtausende später legten wieder Menschen eines wandernden Gottesvolkes einen Grundstein für ihren Tempel des Glaubens. Es waren unsere Gründungsväter und -mütter, die um ihres Glaubens Willen aus der Wallonie und den spanischen Niederlanden fliehen mussten, die sich auf den Weg ins Ungewisse machten, vieles - vielleicht alles - hinter sich ließen und lange heimatlos waren.

Und dann kamen sie hierher nach Hanau. Hier erlebten sie die Akzeptanz ihres calvinistischen Glaubens und durch eine Kapitulation wurden ihnen Rechte zugebilligt, von denen sie wohl nie zu träumen gewagt hatten.

Wohl nicht ohne Grund wurde deshalb der 122. Psalm als Predigttext im Eröffnungsgottesdienst gewählt, den ich Ihnen an dieser Stelle vorlese:

 

Ein Segenswunsch für Jerusalem 

Von David, ein Wallfahrtslied. 

Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN! 

Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. 

Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll, wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme des HERRN, wie es geboten ist dem Volke Israel, zu preisen den Namen des HERRN. 

Denn dort stehen die Throne zum Gericht, die Throne des Hauses David. 

Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohl gehen denen, die dich lieben! 

Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! 

Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. 

Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.

 

Meine Lieben,
„Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Es möge Frieden sein in deinen Mauern und Glück in deinen Häusern.” Dieser Wunsch nach Frieden und Glück konnte nicht immer erfüllt werden in den vergangenen vier Jahrhunderten. Seuchen und Krieg machten auch vor unserer Kirche nicht Halt. Und doch dürfen wir uns glücklich schätzen, dass wir bis heute an dieser Stelle, ohne Abspaltung Gott die Treue gehalten haben und noch lange halten werden, denn ER ist es, der seine Kirche leitet und erhält.

Unsere Vorfahren suchten sich dann nach evangelischer Sitte ein Bibelwort, welches als Leitvers über all dem gemeindlichen Leben stehen sollte. Wir finden es im 92. Psalm. Die Wallonen wählten Vers 13, der bis heute in unserem Siegel geführt wird: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum”. Die Holländer den folgenden, der leider etwas in Vergessenheit geraten ist: „Der Gerechte wird wohnen im Hause des HERRN.”

Bei meiner improvisierten Predigt am vergangenen Donnerstag während des Festgottesdienstes, als wir den Heiligen Geist unterstützend erlebten, sprach ich von einem Vergleich, den ich an dieser Stelle wiederhole, da ihn ja nicht alle bereits kennen. Mir kam nämlich ein m. E. passendes Bild in den Sinn.

Wollen wir, dass unsere Kirche, und damit wir selbst, grünen wie eine Palme? Oder wollen wir lieber einen Bonsai, jene japanische Baumkreation, der die Wurzeln und Äste beschnitten werden, bei der der Mensch Schöpfer spielt und über die Form entscheidet?

Palme oder Bonsai? Die Reformatoren vor fünf Jahrhunderten haben alles Mögliche getan, nur nicht das, was man von ihnen erwartet hat. Und darin hatten sie Erfolg, weil sie der Stimme Gottes mehr folgten, als den Wünschen der Menschen. Erwarten Gemeindeglieder heute Ähnliches von ihren Pfarrern?

Dass sie auf den Ruf Gottes horchen und zum Rufer in der Wüste werden, und natürlich (oder gerade) nicht jede Erwartung erfüllen? Geistliche Menschen also, die in der Landkarte Gottes, das ist das Gebet und das Studium der Heiligen Schrift, neue Wege für die Zukunft der Kirche entdecken und die alten, ausgetretenen Pfade verlassen.

Oftmals habe ich das Gefühl, dass beim Umgang mit unseren Gepflogenheiten und Traditionen sich manche wie ein Schiffbrüchiger an ein Wrackteil klammert, im Wissen, dass er untergehen wird. Ist es aber nicht die Hoffnung, die den Schiffbrüchigen schwimmen lässt, obwohl kein Land in Sicht ist? Wir wissen nicht, ob alle Änderungen und Neuerungen richtig sind. Ich habe aber den Glauben, dass Gott uns nicht untergehen lässt, sondern in sein Land der Zukunft wandern lässt.

„Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Es möge Frieden sein in deinen Mauern und Glück in deinen Häusern.” Diese Prophezeiung ging damals für die Glaubensflüchtlinge in Erfüllung. Und auch ich sehe eine blühende Zukunft dieser Kirche voraus, wenn wir uns an Gott, den Lebendigen, halten:

Wenn wir eine nach seinem Wort reformierte Kirche sind und bleiben, wenn jeder einzelne von uns sich einbringt in unserer Kirche, zum Wohle seiner selbst, der anderen und zum Lobe Gottes, als Motivation und nicht als Bremsklotz.

wng_33„In deinen Toren werde ich stehen, du freie Stadt Jerusalem!” „Durst und Staub der langen Reise, wer denkt daran noch zurück?” Vieles haben wir als Kirche in der Vergangenheit erreicht, aber dies ist kein Grund, sich auszuruhen. Bis heute ist unsere Mission unverändert: Gott zu loben und in seinem Namen Gutes zu tun, ja, die Welt mit unseren Möglichkeiten und unserem Willen positiv zu verändern - mit, nicht nach!

Vor wenigen Jahren kam die Kampagne „Du bist Deutschland” auf. Dieser Text passt auch gut zu unserer reformierten Kirche, in der es auf jeden Einzelnen ankommt, theologisch gesprochen: in dem jeder ob des allg. Priestertums seinen Auftrag hat. Niemand verschließe sich davor:

„Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen. Der Windstoß, der durch seinen Flügelschlag verdrängt wird, entwurzelt vielleicht ein paar Kilometer weiter Bäume. Genauso, wie sich ein Lufthauch zu einem Sturm entwickelt, kann deine Tat wirken. […]

Unrealistisch, sagst du? Warum feuerst du dann deine Mannschaft im Stadion an, wenn deine Stimme so unwichtig ist? Wieso schwenkst du Fahnen, während Schumacher seine Runden dreht? Du kennst die Antwort: Weil aus deiner Flagge viele werden und aus deiner Stimme ein ganzer Chor. Du bist von allem ein Teil. Und alles ist ein Teil von dir. Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern. Egal, wo du arbeitest. Egal, welche Position du hast. Du hältst den Laden zusammen. Du bist der Laden. Wie wäre es, wenn du dich mal wieder selbst anfeuerst? Gib nicht nur auf der Autobahn Gas. Geh runter von der Bremse. Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Lebensbahn. Frage dich nicht, was die anderen für dich tun. Du bist die anderen.

Behandle deine Kirche doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an. Bring die beste Leistung, zu der du fähig bist. Und wenn du damit fertig bist, übertriff dich selbst. Schlag mit deinen Flügeln und reiß Bäume aus."

„Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Es möge Frieden sein in deinen Mauern und Glück in deinen Häusern.[Und] der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum und wohnen im Hause des HERRN.”

Dies bezeuge ich im Namen Jesu Christi.
AMEN

Torben W. Telder, vdm

Fotos: Günther/Rose