Textgrundlage aus Markus 9, 20-29:

20 Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn hin und her. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. 21 Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist‘s, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. 22 Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! 23 Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. 24 Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! 25 Als nun Jesus sah, dass die Menge zusammenlief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! 26 Da schrie er und riss ihn heftig hin und her und fuhr aus. Und er lag da wie tot, sodass alle sagten: Er ist tot. 27 Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf, und er stand auf. 28 Und als er ins Haus kam, fragten ihn seine Jünger für sich allein: Warum konnten wir ihn nicht austreiben? 29 Und er sprach: Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.

 

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
werte Geschwister im geistlichen Amt,

wie schön ist es, in dieser reich geschmückten Kirche in ökumenischer Verbundenheit das neue Jahr zu beginnen. Ich hoffe, Sie sind alle gut in das Jahr 2020 hineingekommen. Wie war Ihr Jahreswechsel: feuchtfröhlich oder eher besinnlich? Haben Sie Brot statt Böller in den Himmel geworfen – schön klimaneutral? Und hatten Sie auch ein wenig Zeit, sich etwas für das neue Jahr vorzunehmen?

Es ist kein Geheimnis, dass neben „mit dem Rauchen aufzuhören“ auch „Abnehmen“ zu den meisten Vorsätzen in der Silvesternacht gehört. Dazu fand ich eine nette Anekdote: Eine Ehefrau kommt morgens ins Badezimmer und sieht ihren Ehemann, wie er auf der Waage stehend den Bauch einzieht. Innerlich lachend denkt sie sich: „Jetzt denkt er echt, dass er weniger wiegt wenn er die Luft anhält.“ Ironisch kommentiert sie schließlich laut: „Du weißt aber schon, dass das nichts hilft.“ Antwortet ihr Ehemann grinsend: „Klar tut es das: Nur so kann ich überhaupt die Gewichtsanzeige sehen.“

Wir Menschen sind Meister darin, uns selbst etwas vorzumachen. Wir Menschen beherrschen die Klaviatur des Lebens, wie wir am besten auch mit den unangenehmen Dingen im Leben umgehen. Und wir Menschen sind oftmals auch mit aufgesetzter Fröhlichkeit unterwegs, die nicht immer ernst gemeint ist.

Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wie viele Momente, Minuten oder Sekunden Sie im neuen Jahr wirklich glücklich und fröhlich sein werden? Wenn wir einander ein „frohes neues Jahr“ wünschen, sagen wir etwas Wichtiges. Denn tatsächlich braucht es nur eine Sekunde und unser Leben kann sich grundlegend ändern – positiv wie negativ. Ein Jahr hat also 31Mio536T000 Sekunden, Momente der Lebensveränderung, in denen alles Mögliche passieren kann, hoffentlich vieles, mit dem wir glücklich werden. 

Nur: was ist Glück? Warum verschenken wir Glücksklee und Glücks-Marzipan-Schweinchen zum neuen Jahr?  Für viele Menschen hängt das Glück davon ab, dass sie ihr Leben im Griff haben. Sie planen und organisieren und sind zufrieden, wenn alles den Weg geht, den sie sich vorgenommen haben. Für mich klingt das mehr nach Langeweile. 

Und es erinnert mich an Alexander den Großen. Als er Griechenland, Persien, Indien und viele Gebiete mehr erobert hatte, setzte er sich hin und langweilte sich, weil er noch so jung war. Langeweile führt zu falschen Entscheidungen, so dass er immer weiter Krieg führte und ausschweifend lebte. Mit gerade 32 Jahren starb er. Ob er vergiftet wurde oder sich zu Tode trank, weiß man nicht. Zumindest aber war er nicht in bester Stimmung. Für Menschen, die alles in ihrem Leben bekommen, mag das Leben zwar gut sein, aber ob sie dann auch glücklich sind, steht auf einem anderen Blatt Papier. 

Die Griechen haben ein Wort für Glück: MAKARIOS. Klingt ein wenig nach Makkaroni, was zumindest Kinder glücklich macht. Dieses MAKARIOS beschreibt einen göttlichen Zustand. Und die Griechen hatten eine Menge an Göttern, die alle irgendwie übernatürliche Menschen waren: Sie machten zwar menschliche Fehler, überwanden sie aber mit göttlicher Stärke. Dieses MAKARIOS fand seinen Weg auch ins Neue Testament in die Seligpreisungen, die eigentlich eine Handreichung zum glücklichen Leben sein wollen. Eine von ihnen heißt: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“

Und dies bringt mich zum Kontext der Jahreslosung für 2020. Ein Vater bringt seinen besessenen Knaben zu Jesus. Vieles hatte er schon ausprobiert, um ihn gesund zu bekommen. Eltern gehen weite Wege aus Sorge um ihre Kinder. Und nun steht der Vater vor Jesus und mit etwas Resignation bittet er ihn: „Wenn du kannst, erbarme dich seiner und hilf uns!“ Jesu erste Antwort ist etwas ironisch in meinen Augen, wenn er nachfragt: „Wenn ich kann?“ Er hat also den Zweifel sofort erkannt. Und er setzt fort: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt!“

Spätestens hier würde ich mich gerne an die Seite des Vaters stellen und Protest einlegen. Meine Lebenserfahrung und sicherlich auch Ihre ist eine andere: Man kann noch so sehr glauben und dennoch sind viele Dinge nicht möglich. Als ob Glaube der Schlüssel zum Erfolg wäre. So ein Satz muss doch zum Unglauben führen, zur Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und so bringt es der Vater dann auch schließlich auf den Punkt – und dies ist die Jahreslosung für 2020: „Ich möchte ja gerne glauben; hilf meinem Unglauben!“

Meine Lieben! Gründe für den Unglauben gibt es ja viele, ein unheilbares Kind wie aus dem Evangelium sicherlich. Es leidet, Eltern setzen die halbe Welt in Bewegung und es kann trotzdem nicht geheilt werden. Oder zerbrechende Beziehungen: Da müht sich der eine noch ab und setzt auf Versöhnung, aber am Ende wird doch ein Schlußstrich von anderer Seite gezogen. Oder die Wegrationalisierung des Arbeitsplatzes – aller Einsatz nützt nichts, die Firma macht trotzdem dicht. Und ich könnte jetzt die Liste unendlich fortführen, wenn ich Nachrichten schaue. 31Mio536T000 Momente auch in 2020, um den Glauben verlieren zu können, nicht wahr? 

Dennoch liegt aber etwas Tröstliches in der Jahreslosung. Denn sie erlaubt uns, unsere Zweifel an Gott nicht zu verdrängen. Ich habe Prediger im Ohr, die das Gegenteil behaupten. Die den Menschen weißmachen wollen, dass Schicksalsschläge und unerhörte Gebete und Bitten nicht an Gott, sondern allein am Menschen selbst liegen, dass man blind und taub sei für das Wirken Gottes, was eben anders sei, als die eigenen Wünsche. 

Dem widerspricht zu allererst die Bibel selbst. Nur wenig nach den Seligpreisungen stehen nämlich folgende Verse: „7 Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 8 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. 9 Oder ist ein Mensch unter euch, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete? 10 Oder der ihm, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete?“ (Matthäus 7)

Da steht nichts von: Gott hat anderes mit dir vor. Nichts von: Du bist blind für die anderen Möglichkeiten Gottes. Du betest halt für etwas Falsches – und ich meine nun nicht den Lottogewinn oder die Weltherrschaft. Im Kontext der Jahreslosung wird um Heilung gebeten und sie geschieht auch. 

So lade ich Sie alle ein, 2020 bewusst als ein Jahr des Unglaubens zu begehen. Klingt vielleicht seltsam für einen Pfarrer, aber ich stehe dazu. Geben wir dem Zweifel Raum und blenden wir nicht die Gründe aus, die in unserer Welt und in unserem Leben persönlich gegen den Glauben sprechen. Ziehen wir ruhig einmal den Glaubensbauch ein, um die Realität zu erkennen. 

Aber vor allem: Halten wir die Skala unseres Glücks und unserer Hoffnungslosigkeit, unserer Erfolge und unseres Scheiterns Gott selbst vor. Wegen ihm sind wir doch heute Abend hierhergekommen. Lassen wir IHN nicht passiven Zuschauer unseres Lebens sein, den wir als den Allmächtigen bekennen. Werfen wir ihm vor die Füße, was uns belastet und zu Boden drückt. Fordern wir das Licht ein, das unsere Dunkelheit hell machen möchte. Und die guten Mächte, die uns behüten und trösten wollen – wie es im Bonhoeffer-Lied heißt, welches wir gleich singen werden. 

An einer Stelle in diesem die Konfessionsgrenzen übergreifenden Lied heißt es schließlich: „Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last. Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.“

So könnte aus Unglaube tatsächlich Glaube wachsen – ein Glaube, der mit Gott in 31Mio536T000 Sekunden des neuen Jahres rechnet, das Leben zum Besseren zu verwandeln. Ein Glaube, der nichts verklärt, sondern dem nackten Leben direkt ins Angesicht blickt. 

Und ja, vielleicht werden wir in 31Mio535T999 Momenten enttäuscht werden, aber dann passiert die eine entscheidende, göttliche Sekunde, in der tatsächlich möglich wird, womit wir nicht (mehr) rechneten. Und zumindest das ist eine bessere Quote als beim Lottospiel – was haben wir also zu verlieren, wenn wir die Jahreslosung zu unserer Lebenslosung in 2020 werden lassen: „Ich möchte glauben, hilf meinem Unglauben!“.

Darauf vertraue ich und bezeuge es im Namen Jesu Christi. AMEN

- Es gilt das gesprochene Wort -