30. Oktober 2022 über Lukas 4, 16-30

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,

welche Idole und welche Stars hatten Sie in Ihrer Kindheit? Menschen, die Sie beeindruckt haben? Wenn ich an meine Kindheit denke, dann fällt mir die Fernsehserie Knight Rider ein – wer wollte damals nicht solch ein mit künstlicher Intelligenz ausgestattetes Auto (KITT) haben und wie David Hasselhoff den Kampf für Gerechtigkeit kämpfen? Oder Lee Majors aus der Serie „Ein Colt für alle Fälle“ – mehr Abenteuer ging nicht mehr.

Ich muss gestehen, ich habe diese Serien zwar gerne geschaut, aber viel prägender für meine spätere Berufswahl war Fernandel, der als Don Camillo mit Peppone so manche Begebenheit hatte, die zum Schmunzeln anregte.

Fernandel war nun schon kein Star mehr meiner Kindheit, da die Filme bereits 1965 abgedreht waren. So kennt jede Zeit ihre eignen Idole. Menschen, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen oder gestellt werden. Menschen, zu denen man aufschaut und denen man nacheifern will. Nicht nur im Fernsehen entdecken wir solche Persönlichkeiten, sondern auch in der Politik.

Eine ganze Generation war von Willy Brandt begeistert und man trat in Massen in die SPD ein. Helmut Kohl hat nicht ganz so viele Begeisterungsstürme ausgelöst, aber auch er passt gut in diese Aufzählung, und zwar wegen etwas anderem: mancher Star wird mitunter unerwartet vom „Sternenhimmel“ heruntergestützt. Die einen demontieren sich selbst, anderen wird übel mitgespielt und wiederum andere verschwinden einfach im Nebel der Geschichte und werden vielleicht von Zeit zu Zeit aus der Mottenkiste geholt.

Heute erinnern wir uns in der evangelischen Konfessionsfamilie an die Reformation. Als ein scheinbar unbedeutender Mönch namens Martin Luther 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg hämmerte. Ob er ahnte, welchen Sturm er damit in Europa auslösen würde? Was folgte, hätte der beste Drehbuchautor nicht besser erfinden können: 1521 wurde Luther in Worms für vogelfrei erklärt. Er floh auf die Wartburg, wo er die Bibel ins Deutsche übersetze.

Die Politik entschied sich für oder gegen seine Kirchenreform. 1555 wurde der Augsburger Religionsfrieden geschlossen, dem der Schmalkaldische Krieg voranging und der Dreißigjährige Krieg in Europa folgte. Da war der Reformator schon längst tot – 1546 war er in Eisleben gestorben.

Aber sein Ruhm wirkte über seinen Tod hinaus: eine ganze Konfession wurde nach ihm benannt und in Deutschland zierten Lutherlinden die Innenstädte und Büsten wurden in vielen Bereichen angebracht. Man war (man ist) stolz auf diesen großen Deutschen.

Geschwister im HERRN, ohne dass Sie es vielleicht bemerkt haben, sind wir bereits mitten im heutigen Predigttext angelangt, zumindest im ersten Teil der Perikope. Der Evangelist Lukas erzählt davon, dass Jesus wieder in seine Heimatstadt Nazareth zurückgekehrt war. Es ist Sabbath und für einen guten Juden gehört es sich, in die Synagoge zu gehen.

Ich kann mir gut vorstellen, wie das abgelaufen sein kann: Neben den normalen Gottesdienstbesuchern waren sicherlich auch viele Neugierige gekommen, um diesen besonderen Menschen, diesen Star, einmal zu sehen und zu erleben. Er war doch einer von ihnen. Er war in der Nachbarschaft aufgewachsen, manche werden sich mit ihm auf den Wegen zum Spielen getroffen haben. Man saß zusammen in der Synagogenschule und kämpfte sich durch hebräische Gesetzestexte.

Jesus sitzt also in der Synagoge, sicherlich in der ersten Reihe, damit er von allen gesehen werden kann. Und als es zur Schriftlesung kommt, wird er gebeten, an das Pult zu treten und die Tageslesung aus der Thorarolle vorzulesen. Es ist ein Abschnitt aus dem Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Dann setzt er sich wieder an seinen Platz.

War das alles? Nicht mehr von ihm? Also wenn man so einen wichtigen Menschen schon zu Gast hat, dann sollte er doch auch persönlich das Wort ergreifen und das Bibelwort auslegen. So richten sich alle Augen auf ihn und sind gespannt, was er wohl sagen wird. Doch was dann folgt, lässt die Stimmung kippen.

Der Kontext unseres heutigen Predigttextes ist nun entscheidend. Der Evangelist Lukas hat ihn an einer Stelle erzählt als Jesus schon längst in Galiläa tätig gewesen ist. Deshalb erwähnt Lukas, dass viele davon erzählten, was für großartige Wunder und Zeichen er schon getan hatte. Und natürlich vergaßen sie nicht, zu erwähnen, dass er als Josefs Sohn einer von ihnen war – sicherlich mit stolzgeschwellter Brust. Der Evangelist Matthäus führt es noch ausführlicher aus. Dort wird Jesus dafür gepriesen, dass er den Blinden sehend, den Tauben hörend, den Lahmen gehend, den Gefangenen frei gemacht und den Toten auferweckt hatte. Was würde er wohl nun für große Dinge in Nazareth bewegen?

Wohl kein Zufall war deshalb auch das JesajaWort. Das Prophetenwort bezieht sich direkt auf den Messias und verkündet ein Gnadenjahr für alle. Sicherlich wurden damit einige Hoffnungen bei den Zuhörenden geweckt: ist es jetzt wirklich so weit? Kann es sein, dass dies mitten unter uns hier in Nazareth anbricht?

Ihnen wird warm ums Herz geworden sein, als sie zu verstehen meinten, dass der segnende Blick Gottes auf ihnen ruhe. Dass Armut und Unterdrückung endlich vorbei sein werden. Und vielleicht färbt ja auch ein wenig von der Heiligkeit Jesu auf sie selbst ab, schließlich ist er ja einer von ihnen.

Doch Jesus enttäuscht und die positive Stimmung kippt ins Negative. Er sagt nämlich: „23 Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet mir freilich dies Sprichwort sagen: Arzt, hilf dir selber! Denn wie große Dinge haben wir gehört, die in Kapernaum geschehen sind! Tu so auch hier in deiner Vaterstadt! 24 Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist willkommen in seinem Vaterland.“

Eben noch euphorisch, macht sich Zorn und Hass breit. Jesus erinnert nämlich (in den Versen 25 – 27) daran, dass Gott oftmals auch die Feinde Israels gebraucht und gesegnet hat.

Damit erklärt er den Menschen an jenem Morgen in der Synagoge, dass Gottes befreiende Kraft nicht nur exklusiv für sein auserwähltes Volk gilt, sondern sie ist für die ganze Welt verheißen, unabhängig von ethischen, kulturellen, sozialen oder konfessionellen Grenzen. Gott wirkt dort, wo er es für nötig hält und nicht wo die Menschen einen Anspruch darauf erheben.

Ein Skandal! Vielleicht sogar Gotteslästerung? Die eben noch feierlich versammelte Gemeinde rottet sich zu einem Mob zusammen und treibt Jesus zur Stadt hinaus, um ihn zu töten. Lukas beschreibt dies als „um ihn hinabzustürzen.“ Das bringt mich wieder zum Anfang meiner Predigt, als ich von den Idolen und Stars gesprochen habe. Nicht selten müssen wir nämlich mit ansehen, wie solche Personen auch hinabgestürzt werden von ihren Podesten, auf die sie die gleichen Menschen gehoben haben.

Um einen Menschen fertig zu machen, werden Gerüchte und Unwahrheiten verbreitet. Man wirbelt viel Staub auf und die Medien schnüffeln noch im letzten Winkel des Privatlebens herum, um eine möglichst reißerische Schlagzeile zu bekommen. Karrieren werden mit einem Klick zunichte gemacht.

Wir alle erleben dies täglich, wenn es nicht mehr um die Wahrheit, sondern ums Fertigmachen geht. Wieso scheuen sich heute Menschen, Personen des öffentlichen Interesses zu werden? Weil sie dadurch angreifbar werden und Fehler, die wir alle machen, lange nachgetragen werden. Die sozialen Medien tragen einen erheblichen Teil dazu bei. Wie schnell ist etwas „geliked“ oder weitergeleitet, wie schnell stoßen auch wir damit andere Menschen in den Abgrund, ohne uns dessen vielleicht bewusst zu sein. Und es tröstet die Betroffenen nur wenig, wenn auf einer Innenseite dann die Richtigstellung in der Zeitung erscheint.

Ist es nicht erschreckend, wie hoch die Selbstmordrate unter Jugendlichen ist, weil sie über Facebook, WhatsApp oder Instagram in der Schule gemobbt werden? Ist es nicht ein Armutszeugnis, dass, wenn Politikern die Argumente ausgehen, nicht selten der politische Gegner dann durch gezielte Angriffe auf sein Privatleben zerstört werden will?

Im Gedenken an den Reformator habe ich in den letzten Jahren einen ähnlichen Eindruck. Luther ist für mich auch immer im Kontext seiner Zeit zu verstehen. Man kann und muss ihn heute anders interpretieren, aber man kann ihn als Kind seiner Zeit nicht demontieren, wenn man nur noch seine fremdenund judenfeindlichen Passagen hervorhebt oder ihm solche Entwicklungen in die Schuhe schiebt, die andere nachfolgende Generationen aus seinen Schriften gezogen haben. Sein bleibendes Vermächtnis sind Kirchenreformen, mit denen sich seit über 500 Jahren unsere katholischen Geschwister noch immer schwertun. Sein Geschenk an uns alle ist seine Betonung der Gnade ohne Leistung, der Freiheit der Entscheidung und die Freude am Glauben statt Angst.

Der heutige Predigttext ist also auch eine Frage an uns selbst: Stehen wir etwa auch manchmal dabei, wenn eine Person in den Abgrund „hinabgestürzt“ werden soll?

Meine Lieben! „Aber Jesus ging mitten durch sie hinweg.“ Jesus lässt sich durch die wütende Menge nicht aufhalten und auch nicht unterkriegen. Dafür bewundere ich ihn bei manchem Gegenwind als Pfarrer. Man kann ihm vielleicht vorwerfen, dass er weiteren Diskussionen aus dem Weg gegangen ist und die Menschen nicht zu überzeugen versuchte. Blinden Hass kann man nur selten beruhigen.

Deshalb lässt Jesus diese negative Energie hinter sich und wendet sich wieder dem zu, für das er gesandt ist: das Evangelium unter die Menschen zu bringen. Durch Galiläa hindurch bis nach Jerusalem zieht sich seine Spur der Wunder und Hoffnungsworte, bis er schließlich in Jerusalem dem Tod den Schrecken durch seine Auferstehung nimmt.

Auf diesen Weg sind wir alle gesandt, ob als Einzelne oder als Kirche, ob mit Rückenoder Gegenwind. Dieser Weg, der uns oftmals aus unserer Komfortzone herausführt, führt uns an jene Orte, an denen wir gebraucht werden: zu den geistig und materiell Armen, zu denen mit gebrochenem Herzen, zu denen, deren Leben ins Wanken und aus den Fugen geraten ist. Für diese und für uns selbst dürfen wir glauben, dass selbst an den Abgründen unseres Lebens der Weg weitergeht.

Und wenn wir uns einmal zu entmutigt und schwach fühlen, dann gilt auch für uns der Zuspruch des Engels des HERRN, der in der heutigen Lesung an Elia in der Wüste erging: „Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und Elia stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise bis zum Berg Gottes. (1.Kö.19, 7f.)“ AMEN!