Gehalten von Dekan Steffen Held (Rodgau-Dreieich)
„Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“ (Psalm 22,2-3)
Worte aus dem Buch der Psalmen, Worte unserer jüdisch-christlichen Tradition, die Menschen schon vor Jahrtausenden gesprochen haben. Worte, die Jesus am Kreuz in der Stunde seines Todes gebetet hat.
Worte aus den Psalmen, liebe Gemeinde, die uns heute zum Licht auf unserem Weg werden mögen.
Psalmen sind Gebete und somit Worte tiefer Frömmigkeit und Zeugnisse unendlichen Gottvertrauens. Auch wenn hier, im 22. Psalm, so vieles in Frage gestellt wird. Wo ist Gott, jetzt in unserer Not? Wo ist er, angesichts des Leides und des Leidens?
Doch noch ruft der Psalmbeter zu Gott. In den Psalmen bringen die Menschen das vor Gott, was ihr Herz bewegt, ihren Dank und ihre Freude, oder eben auch ihre Klage und ihre Ratlosigkeit, ihre Ängste, Sorgen und ihre Not.
Und manchmal, da verleihen uns die Psalmen Worte, in die wir einstimmen können, weil wir selbst sprachlos sind.
„Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Aus tiefster Not höre ich diese Worte gen Himmel rufen. Ich bin unsicher, wie diese Worte wohl klingen - laut schreiend, voller Wut und in Anklage – oder zart hauchend, verzweifelt und weil die Kraft für mehr fehlt.
Wie auch immer wir rufen, Gott, mein Gott, es scheint doch die Hoffnung da zu sein, dass eine Antwort kommen wird. Es möge ein Zeichen kommen, dass wir, dass die Welt nicht gott- verlassen ist, sondern Gott noch eine Zukunft für uns vorsieht.
„Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Worte, wie sie vor 80 Jahren vielleicht dem ein oder anderen über die Lippen gingen. Worte, die uns in den Sinn kommen, wenn wir der schrecklichen Ereignisse vor 80 Jahren hier in Hanau gedenken.
Es waren 20 Minuten, um 4.20 Uhr beginnend, die alles veränderten. Schon viele Jahre tobte der Krieg. So viel Leid war schon geschehen. Auch die Stadt Hanau musste bereits seit dem Jahr 1941 viele Luftangriffe erleben. Es war ein furchtbarer Krieg, der seinen Ausgang von deutschem Boden nahm. Ein Krieg, der aus der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus heraus so viel Leid und Tod mit sich brachte.
Die Welt ergab sich dem Regime des Nationalsozialismus jedoch nicht kampflos, und so erreichte der Krieg, der von Deutschland aus begonnen hatte, mit aller Härte nun auch die Mitte des Landes und auch die Stadt Hanau. Bei dem Fliegerangriff des 19. März 1945, der in den frühen Morgenstunden begann, wurde die Stadt quasi völlig zerstört. Die Stadt Hanau, sie wird von den Medien, die in diesen Tagen auch berichten und erinnern, als „flammendes Inferno“, „Hölle, die losbrach“, „Bombenhagel“ und „Trümmerwüste“ bezeichnet. Tote, Verletzte, Obdachlose sind zu verzeichnen.
Tausende Menschen starben allein an diesem Morgen. Für Zehntausende blieben die Folgen dieses Hanauer Morgens ein Leben lang spürbar und schreckliche Realität. Viele, viele Menschen, die zwar überlebten, doch Zeit ihres Lebens geprägt waren und sind von dem, was damals geschehen ist.
„Es war grausam, den Morgen vergess‘ ich nie,“ erzählt eine Zeitzeugin von damals, die den Angriff im Keller ihres Hauses erlebte, überlebte und dann eine Stadt sah, die nicht mehr ihre war. Die Angst sei übermächtig gewesen, es pfiff, knallte, rumorte, die Erde bebte und viele knieten auf dem Boden und beteten. Als sie den Keller nach dem Angriff verließen und brennende und zerstörte Häuser sahen, schreiende Kinder hörten, ergriff sie das blanke Entsetzen.
Heute gedenken wir zu allererst der Opfer dieses 19. März 1945 und beten für sie und ihre Angehörigen. Wir gedenken zudem der vielen Menschen, die unter Hass, Gewalt und Krieg leiden, damals und auch heute, und schließen sie in unser Gebet mit ein. Wir erinnern und gedenken. Dabei ist unser Gedenken immer auch ein Mahnen für Versöhnung zwischen Völkern und Nationen, und wir beten für den Frieden - auch heute.
Angesichts des Grauens und des Leidens über das, was wir von den Ereignissen des 2. Weltkriegs wissen, sollten wir dabei durchaus unserer Sprachlosigkeit Ausdruck verleihen und diese benennen – und auch immer wieder aushalten. Denn eigentlich gibt es keine Worte, die Krieg erklären könnten. Wenn ich die Bilder von damals sehe, wenn ich mir die Ruinen-Teile der Wallonisch-Niederländischen Kirche vor Augen führe, dann sollte ich zunächst einmal in Demut schweigen.
Im Schweigen und Gedenken treten weitere Bilder in meinen Kopf und ich muss erkennen, unser Gedenken ist nicht nur in die Vergangenheit gerichtet, sondern ist grausame Gegenwart. Auch 80 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus hier in Deutschland ist die Welt keine friedliche Welt. Hass, Terror und Gewalt sind vielerorts spürbar und auch Kriege sind bittere Realität. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die kriegerischen Auseinandersetzungen in Israel und Palästina und die Bilder, die uns aus jenen Regionen erreichen, erschüttern uns.
Dabei sind es ja nicht nur Bilder – es ist das wahre Leben bzw. das, was vom Leben übrigbleibt, wenn Krieg herrscht.
Auch heute, jetzt, in diesem Moment sitzen vielleicht Menschen in einem Keller, angsterfüllt – und beten: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
So bete auch ich immer wieder und zugleich sage ich: „Mensch, mein Mensch, warum hast du nichts gelernt? Warum führst du immer wieder Kriege, warum lässt du dich von Machthunger, Hass und Gewalt leiten? Mensch, mein Mensch, warum hast du Gott verlassen?“
Dass Deutschland nach den Schrecken des Holocaust und des 2. Weltkriegs wieder Teil der europäischen Familie wurde und anerkannter Partner der freien Weltgemeinschaft, ist Ergebnis vieler Jahre und Jahrzehnte der Aufarbeitung, des Schuldbekenntnisses und der Versöhnungs- und Friedensarbeit.
Dazu gehören auch viele friedensstiftende und versöhnende christliche Initiativen, so auch Coventry und die Nagelkreuzgemeinschaft, zu der auch Ihre Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, hier zählt.
Versöhnung und Frieden geschehen nicht von selbst, wir sollen und wir müssen auch etwas dafür tun. Doch ich will es nicht allein als Imperativ, sondern auch als befreiende Botschaft formulieren: wir können etwas dafür tun. Eine Investition in den Frieden lohnt allemal mehr als in den Krieg. Wir leben in schwierigen Zeiten.
Ich bin 1975 geboren und als Jugendlicher habe ich 1994 Abitur in Frankfurt gemacht, und junger Erwachsener hatte ich den Eindruck, die Welt um mich herum werde immer besser und immer friedlicher. Ich durfte den Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer erleben, die Deutsche Einheit, Völker aus Ost und West nähern sich an und die Frage von Gerechtigkeit des Südens und des Nordens wird auch bedacht. „Alles wird gut, richtig gut,“ so dachte ich lange Zeit, „und ich darf es sogar erleben.“ War das nur jugendliche Naivität? Irgendwann, so mein Empfinden, ist da wieder etwas gekippt. Es scheinen Ungerechtigkeiten weiterhin vorgeherrscht zu haben, und Kriegslogiken weiterhin bestimmend gewesen zu sein.
In dieser Woche nun historische Abstimmungen in Bundestag und Bundesrat, die ich hier in keiner Weise bewerten möchte. Ich verweise auf diese, um die Ernsthaftigkeit der Situation zu verdeutlichen, in der wir leben. Vieles macht den Menschen Angst und Sorge. Wir haben wieder Krieg in Europa und es ist nicht sicher, dass sich dieser Krieg nicht auch ausweiten könnte. Sorge macht mir dabei auch die Rhetorik in Stil und Tonfall, welche die öffentliche Debatte zu bestimmen scheint.
Wir sprechen von Abschreckung und Drohszenarien – das hat auch seine berechtigten Gründe. Doch sprechen wir auch noch von Versuchen der Verständigung und Versöhnung? Das müssten wir doch tun, wenn unser Denken und Handeln über das Hier und Jetzt hinausreichen soll. Aus christlicher Sicht ist das so.Es scheint, als könnten wir in vielen Fragen Schuldige besser und leichter benennen als Lösungsansätze zu formulieren.
Populisten haben derzeit leichtes Spiel und etablierte Institutionen, zu denen ich auch die Kirchen zähle, die lange Zeit als Garanten für unsere Gesellschaft galten, die zum Wohl und Besten der Menschen im Gesamten handeln, haben das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung verloren. Wir erleben immer mehr extremistische Strömungen auf der Welt und auch bei uns und sehen wieder Männer an der Macht, deren Leitlinien mir zumindest äußerst fragwürdig erscheinen. Wir hören, dass Empathie als grundlegende Schwäche ausgelegt wird. All das macht mir Sorgen und da kann ich aus christlicher Sicht nur sagen: „Nein, so nicht! Wir haben eine Verantwortung, von Gott, für diese Welt, für seine Schöpfung und seine Geschöpfe“. Aus dieser christlichen Verantwortung heraus, die dem Leben dient, wollen wir reden und handeln. Dabei lernen wir aus unserer Geschichte. Wir haben einen Auftrag von dem, in dessen Namen wir Kirche sind.
Kyriake, der Herr der Kirche ist Christus. Es ist der, der die Herrschaftsverhältnisse auf Erden umgekehrt hat. Es ist der König der Welt, in einem Stall in Bethlehem geboren. Wir vertrauen auf den, der das Reich Gottes verkündet, uns zur Buße und Umkehr aufruft. Er, der auf alle Menschen zugegangen ist und auch um die Sünder seiner Zeit keinen weiten Bogen geschlagen hat. Im Gegenteil, er ist gekommen zur Vergebung der Sünde, zum Heil für die Welt, zur Erlösung. Es ist der, der uns seinen Frieden gibt, nicht wie die Welt gibt. Es ist der, der in der Bergpredigt auch zu uns spricht:
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
Es ist der 19. März, wir erinnern und gedenken und beten für Versöhnung und Frieden. Zugleich sind wir als christliche Gemeinden mitten in der Passionszeit. Es ist die Zeit, in der wir in besonderer Weise des Leidens in der Welt gedenken und auch des Leidens Jesu. Wir spüren in diesen Tagen auf dem Weg zum Osterfest dem nach, was das Kreuzesgeschehen für uns und unseren Glauben bedeutet. Passion, das heißt Leidenschaft und Leiden. Aus Liebe zu uns Menschen und zu seiner Welt ist Gott den Weg bis an das Kreuz gegangen.
Jesus ist für uns gestorben, von der Welt gerichtet, hat er die Welt überwunden.
Wir können da wohl nicht alles verstehen, doch wir können als Christinnen und Christen vertrauen, dass es so ist.
„Eli, eli, lamah sabachthani – Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Es ist auch eines der sieben letzten Worte Jesu am Kreuz.
Jesus stirbt den Kreuzestod. Gott, der Allmächtige, er stirbt – undenkbar.
Gott, der im Himmel thront, er kennt und er erlebt Leiden, und er erfährt offensichtlich am Kreuz einen Moment der annähernden Gottverlassenheit.
Gott weiß, was Leiden heißt, weil er es selbst erlebt hat. Für mich eine der zentralen Botschaften der Passionszeit und des christlichen Glaubens.
Gott weiß, was Leiden heißt und ist bei den Menschen, auch den Opfern von Krieg und Gewalt, auch in den Bombennächten des Lebens.
Jesus betet am Kreuz zu seinem Vater. Er betet Worte seiner jüdischen Tradition. Er fragt Gott und stellt ihn in diesem Moment in Frage, und zugleich, indem er zu ihm betet, bleibt er in der Beziehung zu Gott.
Der Psalm 22 geht weiter. Dort heißt es: „Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.
Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.“
Der Psalm 22 geht weiter und zeugt von der Hoffnung, dass es auch mit dem Leben weitergeht, weil Gott Zukunft ermöglicht, hier auf Erden und in seiner Ewigkeit.
Der Moment der scheinbaren Gottverlassenheit ist also nicht das Ende.
Der Tod hat nicht das letzte Wort. Darauf vertraut der Psalmbeter, darauf vertrauen auch wir.
In dieser Gewissheit betet auch Jesus zu seinem Vater.
Wir vertrauen darauf, dass unsere Toten bei Gott wohl geborgen sind.
Wir vertrauen darauf, dass Gott die Macht hat, alles zum Guten zu wenden.
Wir beten, dass er es auch tun möge, und uns hier bereits zu Werkzeugen seines Friedens und seiner Versöhnung macht.
Wir wagen – trotz allem – den Traum von Frieden und Versöhnung.
Albert Schweitzer hat einmal formuliert:
„Die höchste Erkenntnis, zu der man gelangen kann, ist die Sehnsucht nach Frieden.“
Möge Gott in uns und allen Menschen die Sehnsucht nach Frieden wachhalten – oder auch wecken.
Möge er uns Hoffnung und Zuversicht schenken, dass wir uns in Wort und Tat für den Frieden einsetzen.
Mögen wir spüren und erleben, dass Gott uns und seine Welt nicht verlassen hat und uns mit seinem Segen und seiner Liebe begleitet.
Darum bitten wir, im Gedenken der Opfer und in Hoffnung auf Frieden.
AMEN