Text: Jeremia 29, 7-14

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
liebe Gäste im Tempel unseres Glaubens,
werte Geschwister im geistlichen Amt,

ein Land unter Schock, eine Welt hält den Atem an. 1000de Vermisste und Verstorbene. Inmitten der Trümmer Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern. Fassungslos und ohnmächtig stehen sie vor dem, was einmal ihr Leben gewesen ist. Eine nicht mehr funktionierende Infrastruktur in weiten Teilen des Landes.

Dies alles beschreibt nicht etwa den 19. März 1945, als in wenigen Minuten fast ganz Hanau ausgelöscht wurde, sondern die Naturkatastrophen in Japan, die einige dramatische Folgen nach sich gezogen haben. Die Welt trauert mit den Opfern und bangt um die Reaktoren.

Dies alles können und wollen wir nicht vergessen, wenn wir heute wohl an die einschneidendste Stunde denken, die Hanau in der Vergangenheit durch die Bombardierung vor 66 Jahren erlebt hat.

Tage wie diese drohen zu Ritualen zu werden, wenn wir sie nicht mit Leben füllen. Und deshalb ist es notwendig, dass wir uns der Bedeutung bis heute bewusst werden, die der 19. März in unser aller Leben haben kann.

Schaue ich mir die Bilder aus Japan an, so bekomme ich eine Ahnung, welche Dimension der 19. März 1945 für Hanau hatte – bei aller Unterschiedlichkeit dieser Ereignisse. Es war zwar kein Bombenteppich, sondern es waren mehrere Tsunami-Wellen, die alles dem Erdboden gleich machten, aber das Ergebnis ist doch ähnlich: Städte sind ausgelöscht und mit ihnen die Geschichte einzelner Menschen. Existenzen sind zerstört. Menschen bangen um ihre Angehörigen, Listen mit Vermißten machen die Runde. Dies alles können wir auch über Nachkriegsdeutschland sagen.

„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN, denn wenn es ihr wohl geht, so geht es auch euch wohl.“ So haben wir es eben aus dem Buch des Propheten Jeremia durch Bruder Wachs von der Baptistengemeinde vorgelesen bekommen. Scheinbar ein logischer Zusammenhang: Geht es der Stadt gut, geht es allen gut. Geht es einer Stadt schlecht, haben alle daran zu leiden.

Was damit gesagt wird, ist eine Herausforderung an uns: Wir alle haben unseren Teil beizutragen zum Gemeinwohl. Niemand darf nur an sich selbst denken, sondern soll auch die anderen im Blick haben.

Dies erinnert mich an eine Predigt von Martin Niemöller, jenem evangelischen Widerstandspfarrer des 2. Weltkrieges. Darin fragt er nämlich nach der Verantwortung von uns Menschen, die politische, aber wohl auch andere Katastrophen, zulässt. „Adam, wo bist Du?“ ruft Gott den Menschen im Paradies. Eine entscheidende Frage, denn unser Gott hat uns Menschen einen freien Willen gelassen, den Adam und Eva Gott abgetrotzt haben.

Martin Niemöller predigt: „Adam, wo bist Du? Mensch, wo bist Du gewesen? [...] Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

So schnell kann das gehen – und so schnell ging es und dies alles, die Verfolgungen, die Konzentrationslager, die Leichenberge auf den Schlachtfeldern, die Zerstörung der Kathedrale von Coventry am 14. November 1940 sind die Ouvertüre für den 19. März 1945 bei uns in Hanau und anderswo. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ – welch wahres Prophetenwort Hoseas (Hos 8,7).

Meine Lieben, ein Gedenktag wie dieser, dem Politik, Parteien und Vereine, aber auch die Kirchen der Vergangenheit gegenwärtige Bedeutung geben, wird auch in Zukunft notwendig sein, auch wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird. Er lehrt uns Verantwortung.

Verantwortung aber kann ein Mensch nur lernen, wenn er auch die Folgen seines Tuns bemessen kann. Noch einmal Martin Niemöller: „ Wo liegt eigentlich der Punkt, an dem man widerstehen muss, wenn man nicht die Freiheit hoffnungslos preisgeben will, die Freiheit, die keine Macht der Welt wieder herstellen kann? [...] Diese Frage lässt sich mit einem Wort beantworten. Dieses eine Wort heisst Verantwortung im Sinne letzter persönlicher Verantwortung. Wo die persönliche Verantwortung negiert und dahinter gelassen wird, gibt es keine Freiheit mehr. [...]

Verantwortung, das meint, dass ich mit meinen Ohren und mit meiner Seele einen Ruf höre, der an mich ganz persönlich ergeht, und dass ich ganz persönlich auf diesen Ruf antworte. [...] Denn damals hätte ich meiner Gemeinde wohl sagen müssen: Was dort geschieht, ist nicht nur gegen alles Recht und Gesetz, das bei uns gilt, sondern was da geschieht, ist ein Anruf Gottes an euch, ob ihr eure Verantwortung sehen wollt oder ob ihr eure Freiheit jetzt preisgeben wollt.“

Geschwister im HERRN, dass wir angesichts Japans die Atomkraft kritischer denn je sehen, ist offensichtlich und ich hoffe, dass dies in Deutschland nicht nur aus wahlkampftaktischen Gründen so ist. Ich erkenne aber noch mehr: Auf einmal stellen wir alle fest: Nicht immer passieren Naturkatastrophen in den ärmsten Ecken der Erde, sondern auch mitten unter uns doch so hoch entwickelten Industrienationen – niemand ist letztendlich sicher.

Noch einmal Jeremia: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung!“

Wie gut tut es doch zu wissen, dass uns Gott immer wieder zum Frieden ruft und zum Frieden mahnt. Dass es noch Hoffnung und Zukunft gibt!
Vielleicht braucht die Menschheit Kriege und Unglücke, damit sie sich ihrer Begrenztheit bewusst wird. Dies hat dann weniger mit dem Willen Gottes zu tun, sondern vielmehr mit einem Scheitern menschlicher Allmachtvorstellungen.

Wir hier in Hanau sind seit jener tragischen Bombennacht und dem Ende des Nazi- Regimes einen erfolgreichen Weg gegangen: Die Trümmer wurden beseitigt, Häuser und Wirtschaft aufgebaut. Man zeigte eine gute Gastfreundschaft den Amerikanern gegenüber, die hier stationiert waren. Man war und ist offen für Neues, aber hält auch die Erinnerung an Vergangenes wach.

Wenn am morgigen Sonntag unsere Wallonisch-Niederländische Kirche in die Nagelkreuzgemeinschaft aufgenommen wird und damit ein Nagelkreuz aus der Kathedrale von Coventry erhält, dann wird nicht nur unsere Kirche damit ausgezeichnet, sondern ganz Hanau.

Denn das Kreuz steht für Versöhnung – im Großen wie im Kleinen. So dürfen wir dankbar feststellen, dass die kirchlichen Trennungen seit der Reformation nicht mehr maßgeblich sind und wir z. Bsp. gemeinsam an Neujahr beten. Vielleicht nur ein kleiner, aber doch ein Schritt in die richtige Richtung.

„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN, denn, wenn es ihr wohl geht, so geht es auch euch wohl.“ Versöhnung findet dort statt, wo Menschen anderer Nationalität und Religion bei uns aufgenommen werden. Versöhnung findet dort statt, wo wir ältere Mitmenschen mit in unseren Alltag hineinnehmen können.

Versöhnung findet dort statt, wo politische Gegner oder wirtschaftliche Konkurrenten innehalten können, um sich auf das Gemeinwohl, statt allein auf Karriere oder Profit zu konzentrieren.

Versöhnung findet überall dort statt, wo Sie sich selbst als einen Menschen begreifen, der seinen Teil in dieser Welt beizutragen hat, der wertvoll ist, der immer wieder eine neue Chance im Leben geschenkt bekommen wird.

wng_2_2011_04Der 19. März 1945, die Katastrophe in Japan und die vielen anderen Einschnitte in der Menschheitsgeschichte werden in unseren Kalendern eingetragen bleiben. Wie wir sie aber mit Leben und Inhalt füllen, dies liegt an uns.

„Adam, wo bist Du?“ fragt Gott deshalb jeden von uns und ruft uns in Verantwortung und zu unserem Tun zu stehen. Vielleicht ist es ein frommer Wunsch, vielleicht habe ich mir zu viel vorgenommen, aber wenn ich Gott am Jüngsten Tag gegenübertrete, möchte ich diese Frage offen und ehrlich beantworten können: „Hier bin ich HERR! Ich habe gesündigt und habe Fehler gemacht. Ich habe aber auch versucht, Versöhnung zu leben, Frieden zu halten und den Menschen zu helfen.“

Darauf hoffe ich, davon predige ich und dies bezeuge ich im Namen Jesu Christi. AMEN.

Torben W. Telder, vdm
Es gilt das gesprochene Wort.