Versöhnung durchdringt alle Bereiche des Lebens. Übersetzung der Predigt von Canon David Porter zur Aufnahme in die Nagelkreuzgemeinschaft Deutschland e.V., gehalten am 20.3.2011
Predigttext: Kolosser 1, V. 15 bis 20
Meine Freunde, es ist eine hohe Ehre für mich, heute hier in dieser Stadt, an diesem Ort und zu dieser Zeit des Gedenkens zu stehen. Zusammen erleben wir an diesem Wochenende Eure Tradition, Eure Gebete und Eure Weise, das Leben mit anderen zu teilen, wenn Ihr die Schrecken des Krieges mit seinen Verlusten bedenkt und daran erinnert, wie teuer und kostbar Versöhnung ist.
Vor 66 Jahren, am 19. März 1945, wurden 85% dieser Stadt von englischen Bomberfliegern zerstört. Hanau, bekannt als der Geburtsort der Gebrüder Grimm, wurde 1597 zum Zufluchtsort für niederländische und wallonische Protestanten. So wurde am Ende des 2. Weltkrieges ein reiches Erbe der Toleranz beendet, Leben wurden ausgelöscht und diese Kirche zerstört, die ein Symbol der schweren Geschichte der Migration und der religiösen Konflikte ist und damit auf die Gewalt hinweist, die frühere Generationen in Europa bedrängt hat.
Die Stadt Coventry ist in der vergangenen Woche zu einem „Ort der Zuflucht“ erklärt worden. In Großbritannien gibt es eine Bewegung, „Zufluchtsorte“ zu schaffen, um den Kriegsflüchtlingen im eigenen Land Oasen der Sicherheit und des Willkommenseins zu bereiten.
Im vergangenen Jahr haben wir uns auch erinnert an den „BLITZ“ vor 70 Jahren, den Luftangriff, der unsere mittelalterliche Kathedrale zerstörte. Für uns in der Gemeinschaft der Kathedrale von Coventry war das zugleich der Beginn von spannenden 18 Monaten der Zeit auf dem Weg von Erinnerung an die Zerstörung zur Erinnerung an den Wiederaufbau – im Mai 2012 werden wir auf 50 Jahre neuerbaute Kathedrale blicken können!
Dieser Weg der Erinnerung kann nicht einfach ein Weg der Gefühlsduselei oder der Nostalgie sein. Und es darf kein Erinnerungsweg sein, der sich um ein Gebäude dreht. Denn wenn die Ereignisse des 14. Novembers 1940 in Coventry und des 19. März 1945 in Hanau uns etwas lehren, dann doch wohl, dass unsere Kirchen, in all ihrer Herrlichkeit, nur wenige Konsequenzen gezogen haben angesichts der brutalen Streitigkeiten, die die menschliche Gemeinschaft überschatten und Zerstörung und Traumata in den Totenwachen der Menschheit hinterlassen.
In der Nacht jenes 19. März sieht sich Hanau an die Seite von Coventry gestellt in einer langen Kette der Unmenschlichkeit. Europa schlingerte erneuert blutig auf dem Weg zum Ende aller Gewaltorgien, die so sehr unser Erbe zerstört haben, unsere Ökonomie, das Leben der Menschen, und, seien wir ehrlich, die auch das Zeugnis unserer Kirchen beschädigt haben.
Seit damals sind wir viele Wege des Wiederaufbaus gegangen, Wege der Erneuerung und der Versöhnung. Das Europa, das wir heute kennen, hat sich bewährt als ein umfassender Prozess der Aussöhnung, die nicht in der Gewalt von Diktatoren begründet ist, sondern sich auf einen frei ausgehandelten gesellschaftlichen Konsens begründet hat, und auf die Teilhabe der europäischen Völker und ihrer Bürger.
In dieser Zeit war das Nagelkreuz von Coventry ein wichtiges Symbol der christlichen Versöhnungsbotschaft. Das Nagelkreuz ist ein geeigneter Zeuge der Zerbrochenheit der Kirche, und zugleich Zeuge der Hoffnung, die wir in Gottes Neubeginn haben.
Gleichwohl müssen wir uns selbst immer wieder fragen, was es konkret bedeutet, dass wir uns dieser Kreuzesbotschaft verpflichtet wissen.
Unzählige Millionen Opfer sind in wacher Erinnerung der Menschheit. Opfer, die durch die Gewalttätigkeiten des Krieges und zwischenmenschlicher Konflikte zu Tode gekommen sind. In zu vielen Familien ist Krieg der moralische Kontext, der auch für die Jugend Bedeutung hat, und die generationsübergreifende Geschichte von Trauma und Verschweigen.
Als Christen und als die Kirche Jesu Christi ist es uns ein wesentlicher Auftrag, dass wir uns inmitten einer Welt, die so sehr von Krieg und Gewalt, von einer Kultur des Todes geprägt ist, als Kinder Gottes erweisen, als Friedensstifter, die eine Alternative zu dieser Welt kennen und leben!
Das ist der Kern, warum eine Gemeinschaft im Zeichen des Nagelkreuzes besteht: unser gemeinsames Bekenntnis, an einer Kultur des Friedens zu arbeiten. Das, was in der Gegenwart geschieht, macht uns immer wieder bewusst, wie grundsätzlich die Entfremdung aller menschlichen Erfahrungen bleibt. Wir leben mit fortdauernder Unsicherheit und Gewalt, mit Missverständnissen und Ausbeutung, mit einem ungeheuren Wechsel in unserem Selbstverständnis, in unserem Verstehen untereinander und der Welt, die wir teilen.
Unsere Wahrnehmung der Zerrissenheit menschlicher Erfahrung und Existenz war nie zuvor größer. Und zugleich ist unsere Bereitschaft, Unterschiede und Fremdheit ertragen zu lernen, selten so problematisch wie heute. Auch darin besteht eine besondere Herausforderung für unsere Nagelkreuzgemeinschaft.
Ihre Kirche in Hanau entstand, als die Frage nach gemeinsamer europäischer Identität mit gewaltsamen Mitteln verneint wurde; es war die Unfähigkeit der Menschen, mit unterschiedlichen religiösen Prägungen leben zu wollen, die Tausenden das Leben kostete.
Und heute sind wieder die Fragen auf der politischen Agenda, wie unterschiedliche ethnische und kulturelle Gruppen Europa miteinander zu teilen bereit sind oder sogar, dass die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft einzelne Personen ausschließt. In der Nachfolge Jesu stehend, durch den Gott die Welt versöhnt hat, müssen wir uns bei diesen Fragen hörbar engagieren!
Unsere Generation ist genauso belastet durch die Wunden der Geschichte und verfolgt durch deren mittelalterliche Stimmen wie jede andere Generation zuvor. Wie es der Historiker Marc Bloch, ein Opfer des Nazi-Deutschlands, 1944 beobachtete: „Wenn eine emotionale Saite angeschlagen ist, ist die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr länger durch eine mathematisch messbare Zeitfolge zu beschreiben.“
Wir müssen neue ethische Vorstellungen entwickeln und diese Wunden vernarben lassen und zur Heilung bringen. Wir müssen die Stimmen zur Ruhe bringen, die uns anrufen, die Verletzungen der Vergangenheit mit Furcht und Hass zu beantworten.
Als Gemeinschaft unter dem Zeichen des Nagelkreuzes bedürfen wir prophetischer Stimmen, ärgerlich und ungeduldig mit dem Zustand dieser Welt, dass die Dinge „eben so bleiben sollen wie sie sind“. Wir brauchen Stimmen, die darum ringen, dass die Dinge so werden, wie sie sein sollten, wie Gott sie haben will. Aber die Kultur des Todes ist so bestimmend und dominant, dass unsere prophetischen Stimmen in den Missklängen und dem Lärm von Hass und Gewalt untergehen. Nur wenn wir wollen, dass die Dinge so werden, wie Gott sie haben will, hören wir die ruhigen Stimmen der Dichter und Lyriker, wir hören die Melodien und die Musik und lassen uns von künstlerischen Gestaltungen provozieren und stören in unserer Bequemlichkeit.
Unter den vielen Künstlern, die in der Kathedrale von Coventry unsere Nach- Kriegs-Geschichte zum Ausdruck bringen und die Heilung von den Wunden der Geschichte bildhaft machen, ist es eine Herausforderung, dass auch eine Arbeit des deutschen Bildhauers Ralph Beyer darunter ist. Er hat Worte in Steintafeln eingraviert, die nun das Hauptschiff schmücken: die Worte der Einladung Christi, die zentralen Worte des Evangeliums, einem Künstler, dessen Volk früher der Feind und Zerstörer war.
Darin erwies sich die prophetische Kraft der Worte von Provost (i.e. Propst) Howard nach den Luftangriffen 1940, die aus dem Geist des Evangeliums Hoffnung auf eine Christus ähnlicherere Welt gaben: „Vater vergib“, dann können ehemalige Feinde gemeinsam arbeiten!
Und es ist ein außergewöhnlich symbolreicher Akt, wenn ein deutscher Bildhauer die Gute Nachricht Gottes in einer englischen Kirche gestaltet und damit ein beeindruckendes Zeugnis gibt, wofür der christliche Glaube in der von Konflikten zerrissenen Welt steht.
Gleichermaßen bedeutsam ist die Arbeit eines jüdischen Bildhauers, Jacob Epstein. Als Sohn polnischer Flüchtlinge in New York geboren, hat er an der Außenseite der Kathedrale seine Statue geschaffen, wie der Erzengel Michael Satan bekämpft und besiegt. Das erinnert uns daran, dass die harte Arbeit der Versöhnung nicht ein Kampf gegen Fleisch und Blut ist, sondern gegen die Mächte und Prinzipien dieser Welt.
In dieser Weise verkörpert die Kathedrale von Coventry einzigartig die lebendige Hoffnung des heutigen Europas, ein versöhnungsbereites Volk und ein Platz, an dem Briten, Polen und Deutsche, Juden und Nichtjuden miteinander die Herrlichkeit Gottes preisen. Der Apostel Paulus zeigt in seinem Brief an die Kolosser eine großartige Vision, wie Gott in der zerbrochenen Welt handelt. Es ist eine Vision, die die ganze Schöpfung umfasst, und in der Versöhnung als das Zentrum von Gottes Auftrag begriffen wird:
„Er (Christus) ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem und alles besteht durch ihn. Und er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe; denn es gefiel der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen und durch ihn alles mit sich zu versöhnen – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes - durch ihn, sei es, was auf der Erde oder was in den Himmeln ist.“ (Kolosser 1, 15 - 20 nach Genfer Neue Übersetzung)
Die Entfremdung der Schöpfung wird aufgelöst in Christus. Hier findet der Kosmos der Schöpfung zusammen mit der Kirche. Unsere Verantwortung für die Heilung der geschändeten Natur kommt zusammen mit der Fürsorge für die Not der Menschen, immer in dem Verständnis, dass nichts jenseits des Versöhnungsauftrages Jesu steht, zu dem auch wir, wie es Paulus an die Korinther schreibt, berufen sind als Botschafter der Versöhnung.
In Christus ist bereits alles versöhnt, alle Dimensionen unserer Vereinsamungen sind in Gemeinschaft mit Christus gestellt: unsere Entfremdung von uns selber, mit unseren Mitmenschen, mit der Umwelt und mit Gott. Es ist das Kreuz Christi, das diese Versöhnung ermöglicht. Die Kreuzigung Christi steht unserem Irrsinn entgegen, jede neue Generation auf den Altären der Gewalt zu opfern, nur weil wir weder die Phantasie haben noch die innere Stärke, einen anderen Weg als den der Gewalt zu gehen, um mit unseren Unterschieden und Gegensätzen zu leben.
Aber als eine Gemeinschaft im Zeichen des Nagelkreuzes, die an den weltumfassenden Christus glaubt, brauchen wir einen solchen unverstellten Blick und Phantasie.
Das prophetische Zeugnis des Predigers mag unser Bewusstsein wach halten, aber es ist das kreative, eindringliche Zeugnis des Künstlers, das unsere Leidenschaft entfacht, unsere Visionen klärt und unsere Augen erheben lässt über das hinaus, was wir kennen.
Die Kunst des Bildes und der Musik lässt uns sehen, was unsichtbar ist: Eine neue Erde wird möglich, ein neues Miteinander, ein lebendiges Zeugnis einer glaubenden Gemeinschaft.
In allen politischen und sozialen Umständen ist es die Vision eines ausgesöhnten und Versöhnung lebenden Volkes, das unsere Welt verändern wird. Es ist ihre Geschichte lebendiger Hoffnung, die die Phantasie belebt, eine Geschichte, die in Gebete, Worte und Aktionen geteilt wird und Menschen zu Zeugen der Wahrheit macht, dass die Fülle Gottes alle Dinge zur Versöhnung drängt. Von dieser guten Nachricht hängt die Welt ab und jedem von uns ist die Verantwortung gegeben, dies wahr werden zu lassen in der gespaltenen Welt.
Zusammen, als Briten und Deutsche, teilen wir eine Geschichte des Schmerzes und der Verletzung, aber auch des Heilens und der Hoffnung. Als deutsche und britische Christen sind wir mit dem ganzen Volk Gottes in der großartigen Geschichte von Gottes Ja zur Schöpfung und seiner Versöhnungstat in aller Menschlichkeit. AMEN.
Es gilt das gesprochene Wort!