Textgrundlage: Matthäus 16, 13-19
Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
wenn Sie schon einmal im Rom waren oder wenn Sie eine Dokumentation über die Ewige Stadt in Film oder Bild gesehen haben, dann kommt man um ein Gebäude nicht herum: den Petersdom.
Inmitten der Stadt Rom mit den über 2000 Kirchen und Kapellen hebt sich die Kuppel dieses eindrucksvollen Gebäudes ab. Und im Rund dieser Kuppel steht folgender Vers aus dem Matthäusevangelium: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen“. Glaubt man den Legenden und Kirchenführern, so lagern unter dem eindrucksvollen Baldachin von Bernini und dem Hauptaltar in einer Krypta die sterblichen Überreste des Apostels Petrus. So genommen hat Christus mit seiner damaligen Verheißung Recht behalten: „Eine eindrucksvolle Kirche erhebt sich über Petrus.“
Das Papstamt wird sich später auf ihn berufen und der Auftrag des Predigttextes: „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“ Dieser Vers also spiegelt sich im Wappen der Päpste bis heute durch die beiden gekreuzten Schlüssel wider. Und auch das römisch-katholische Beichtsakrament beruft sich auf diese Stelle.
Aber nun werden Sie sich vielleicht fragen, wieso die Predigt am Gemeindegründungsfest so sehr auf das Papsttum und den Katholizismus schielt. 411 Jahre nach Gründung der Gemeinde durch Kapitulation sollte es doch andere, hoffentlich wichtigere Themen geben. Ich möchte deshalb von Petrus und dem Papsttum eine Brücke über unseren Predigttext hinüber, oder besser hinein in unsere Gemeinde schlagen. Und dabei hilft mir wiederum der Katholizismus.
Als am 19. April 2005 der deutsche Joseph Kardinal Ratzinger von den 115 teilnehmenden Kardinälen im vierten Wahlgang nach einer ungewöhnlich kurzen Dauer des Konklaves von nur 26 Stunden zum Nachfolger des verstorbenen Johannes Paul II. gewählt wurde, titelte die Bild-Zeitung: „Wir sind Papst!“
Und ohne es zu wollen oder gar zu wissen, brachte sie damit eine reformatorische Einsicht neu ins Gespräch: „Jeder von uns ist durch seine Taufe dazu berufen, den Dienst in der Gemeinde Gottes zu versehen.“ Zu Recht sagt der Reformator: „Bist Du durch die Taufe gekrochen, dann bist Du Priester, Bischof und Papst in einem“ und begründet so nicht nur das allgemeine Priestertum, sondern lehnt eben auch einen qualitativen Unterschied zwischen unterschiedlichen Ämtern ab.
Doch zurück zu unserem Predigttext. Wer ist dieser Petrus, mit dem Christus seine Kirche bauen möchte? Zunächst überrascht uns Leser, dass Simon durch Jesus einen neuen Namen erhält: Petrus, verdolmetscht: Fels. Dieser Name soll ihn zu einer neuen Aufgabe, zu einer neuen Lebensweise, zu einem neuen Ziel berufen. Warum Jesus Simon den Namen Petrus gibt, wird an keiner Stelle der Bibel richtig deutlich. Setzt man Fels als hartes Gestein in Bezug zu einem Hartliner, wird man bei Betrachtung des Petrus enttäuscht werden.
Wer die Berichte des Neuen Testaments über Petrus kennt – und ich kann Sie immer wieder nur ermutigen, einmal zu Hause die Bibel zur Hand zu nehmen –, würde diesen Simon nicht unbedingt zu einem Felsen berufen oder gar als solchen beschreiben. Kein einziger der anderen Jünger war so schnell im Reden wie Petrus. Er hat auch so oft vorschnell gehandelt. Er unterlag Stimmungsschwankungen, konnte zornig werden und wollte sogar Jesus den Mund verbieten, als es unangenehm zu werden drohte.
Nur zwei Episoden seien hier genannt: Als Jesus nachts über den See Genezareth wandelte, wollte Petrus ihm entgegen gehen. Und Jesus forderte ihn auf, es zu tun. Und so setzte Petrus seinen einen Fuß voller Elan auf das Wasser und – oh Wunder – es bot Halt. Und dann zog er den zweiten Fuß nach und so langsam begann er doch zu zweifeln und schließlich versank er, so dass Jesus, der immer noch sicheren Fußes auf dem Wasser stand, ihn herausziehen musste.
Oder als er beim Letzten Abendmahl Jesus versprach, ihm immer die Treue zu halten. Wie schnell kam es dann doch zum Wortbruch, als Männer und Frauen in ihm einen Gefährten Jesu vermuteten. Gleich drei Mal verlässt ihn der Mut und er verleugnet Jesus. Ein Fels ist etwas Stabiles, Simon war dagegen eher etwas Labiles, etwas, worauf man sich nicht verlassen sollte. Und obwohl Jesus dies alles von Petrus wohl wusste, sah er in ihm den Felsen, auf dem die Kirche wachsen sollte.
„Wir sind Papst!“ „Du bist Petrus!“ – diesem Zuspruch, dieser Aussage fordert der Text uns auf, nachzugehen. Denn an welcher Stelle unserer Gemeinde, der Kirche Jesu Christi, der Christenheit haben wir unseren Platz? Jeder und jede einzelne von uns? Denn gerade, dass Petrus ein Mensch mit Schwächen und Stärken ist, ein Mensch, der nicht immer einen festen Glauben hatte, sondern der auch einmal zweifeln konnte – dies sollte uns Mut machen, uns mehr mit unserem Platz und unserer Aufgabe in dieser Gemeinde auseinander zu setzen.
Natürlich ist es schön, ein Gemeindegründungsfest zu feiern, also quasi sich selbst. Aber bleibt da nicht bei Ihnen die Frage offen, was Sie selbst zu der Aufgabe und dem Auftrag der Gemeinde beisteuern könnten? Oder ist es schon so weit mit uns gekommen, dass wir in einer passiven Konsumentenhaltung verharren und die anderen immer alles tun lassen?
„Du bist Petrus !“ Und da gilt keine Ausrede! Selbst in den Zeiten oder Momenten, in denen Sie gedacht haben oder denken: „Alles, was ich mache, klappt nicht, alles scheint schief zu laufen, meine Worte, meine Handlungen, meine Entscheidungen – alles scheint irgendwie zu misslingen!“
Oder wenn ein Gefühl Ihnen einreden möchte: „Ich verzweifle fast an mir selbst, das möchte ich nicht noch anderen zumuten!“ Und wenn Sie nach einer Kette von Scheitern denken: „Aus mir wird wohl nichts Großes (mehr) werden! Ich schaffe nichts!“ Vielleicht im Beruf, oder in Bezug auf die Erziehung Ihrer Kinder, in Ihren Beziehungen – wo auch immer!
Lassen Sie es sich von Jesus selbst gesagt sein: „Du bist Petrus!“ trotz alledem! Und trotz alledem ist jeder von uns entscheidend mitverantwortlich am Bau, am Wachsen, am Erhalt der Kirche Gottes. Sicherlich sind wir nicht alle gleich berufen, aber jeder von uns ist zu einem sinnvollen Leben berufen. Und dies zu verinnerlichen, ist das Beste, was man sich selbst, den anderen, Kirche und Gesellschaft tun kann. Jeder von uns hat in dieser Welt mindestens eine Aufgabe und darf wissen: Gott möchte ihn gebrauchen. Und solange wir auf der Welt sind, dürfen wir wissen, wir haben noch etwas zu tun, etwas zu bewirken, etwas Sinnvolles zu vollbringen. Denn – so hat es ein Theologe einmal formuliert – : „Wenn Gott uns nicht mehr gebrauchen will (auf dieser Welt), nimmt er uns zu sich“, d. h. solange Sie hier leben, will Gott Sie für diese Welt gebrauchen oder: solange Sie noch etwas zu tun haben, werden Sie leben, sind wir alle noch nicht an ein Ende gekommen mit uns selbst und unserer Aufgabe.
Genauso wie Petrus sind auch wir Menschen mit Einschränkungen und Beschränkungen, mit Fehlern und Unvollkommenheiten und das auf allen Gebieten! Und wie Jesus Petrus gebraucht hat, so will er uns auch gebrauchen. Das Besondere am Dienst von Petrus lag nicht in den ihm eigenen Fähigkeiten, sondern auch daran, dass er Jesus trotz Rückschlägen immer wieder die Treue gehalten und um mehr Glauben gebetet hat, wenn er schwächelte.
„Du bist Petrus!“ Jesus hat uns alle zu einem sinnvollen Leben berufen. Das ist eine gute und tröstende Sache, oder etwa nicht? Doch was ist ein sinnvolles Leben bzw. was macht ein sinnvolles Leben aus? Wie wichtig und gewichtig muss meine Aufgabe sein, damit ich sagen kann, dass mein Leben sinnvoll ist, dass Gott mich gebraucht?
Sehen Sie, hier kann sich doch recht schnell ein Problem auftun. Man hat eine bestimmte Vorstellung von den Aufgaben, die das Leben sinnvoll machen. Es sollen große Aufgaben sein, die ganz besonders sind. Nur, so denkt man, wenn ich solche besonders gewichtigen Aufgaben (gewichtig natürlich im Auge der anderen Menschen) erfüllen kann, dann ist mein Leben sinnvoll. Wir orientieren uns oft an menschlichen Maßstäben von Größe und Besonderheit, wir denken dabei sehr oft an uns und unsere Ehre und daran, wie wir Lob kriegen können – bewusst oder unbewusst – und definieren an Hand dessen, welche Aufgaben unser Leben sinnvoll machen und welche nicht!
Sind wir doch einmal ehrlich zu uns selbst, mit einem solchen Denken setzen wir uns unter Druck und Stress und wir können nicht mehr sehen, dass unser Leben auch in den kleinen Dingen und Augenblicken des Alltages sinnvoll ist.
Dies spricht nun nicht gegen große Pläne und Visionen für das eigene Leben oder das einer ganzen Gemeinde – und ganz im Vertrauen, ich habe große Träume und Visionen für diese Kirche, die es seit 411 Jahren gibt! Aber wir sollten uns davon nicht gefangen nehmen lassen und auch mit kleinen Erfolgen zufrieden sein!
Und doch stelle ich Ihnen folgende Fragen: „Was würden Sie noch heute anpacken, wenn Sie wüssten, Sie könnten nicht scheitern, versagen? Und welche Träume würden Sie träumen, wenn Gott darin einen Platz hätte?“ Und Gott braucht viel Platz, wenn wir ihn nicht klein reden wollen!
„Du bist Petrus!“ Am Ende des Johannesevangeliums begegnet uns noch einmal Petrus. Nach Ostern war er wieder Fischer geworden. Es schien, als wäre Jesus nur eine kurze Episode in seinem Leben gewesen. Und da taucht der Auferstandene plötzlich am Ufer auf.
Petrus entdeckt ihn und springt übermütig ins Wasser – wie schnell er sich doch begeistern konnte und zur Tat schritt! Und ich kann mir gut vorstellen, dass Jesus ihm ein Stückchen entgegengegangen sein wird. Sie werden sich in die Arme gefallen sein. Und in diesem Moment durfte sich Petrus seiner Berufung sicher sein, die trotz seines mehrmaligen Scheiterns niemals aufgehoben wurde.
Petrus ist am Ziel angelangt, wozu Jesus ihn berufen hat, nicht weil er nie versagt hätte, sondern weil er einen Gott der zweiten, dritten und vierten Chance hat und weil er immer wieder neu einen Neuanfang gewagt hat. Behalten Sie das bitte tief in ihrem Herzen:
Das Geheimnis des christlichen Glaubens besteht darin, dass Gott uns in Christus jederzeit eine neue Chance anbietet. Er streckt uns auch heute wieder die Hand entgegen, wenn wir zusammen gleich das Heilige Abendmahl feiern werden. Packen wir feste zu und geben ihm Raum in unserem Leben!
„Du bist Petrus!“ Auch unsere Gemeinde hat an dieser Berufung Anteil durch die Schar ihrer Glieder, durch uns alle! 411 Jahre behaupten wir uns und ich denke, wir dürfen es dem Segen Gottes verdanken, dass es uns trotz immer wieder auftretender Anfeindung von außen noch immer gibt, vielleicht gerade deshalb, weil wir uns dadurch unserer Tradition und vor allem unseres Glaubens bewusst bleiben durften. Wenn wir dies im Auge behalten, und Gottes Geist der Freiheit bei uns wehen lassen, dann dürfen wir auf die Zukunft gespannt sein. Nicht nur in Rom oder anderswo wird Kirche gebaut, sondern mitten unter uns hegen und pflegen wir unsere Gemeinde inmitten der Stadt Hanau.
So, wie es uns 1597 in der Capitulation zugebilligt wurde, nämlich (Zitat im damaligen Deutsch): „dass ihnen hiermit und in crafft dießes, auch mit der administration der Heyligen Sacramenten und einsegnung der eheleuthen, wie auch sonsten ihre christliche liturgiam, disciplin und kirchenordnung [...] frey und offentlich zu exercieren und zu gebrauchen, soll zugelaßsn und erleubt sein.“
Gott segne und erhalte unseren Glauben und unsere Gemeinde – ihm zur Ehre und uns zur Erbauung. AMEN!
Torben W. Telder, Pfr.
– es gilt das gesprochene Wort –