Das Gemeindegründungsfest in einem Jahr zu feiern, welches so voll an Jubiläen ist, droht schnell dazu, auch wieder „nur“ ein weiterer Tag im Festkalender zu werden. Natürlich ist es eindrucksvoll, wenn wir uns daran erinnern, dass die Reformationsbemühungen Johannes Calvins, der vor 500 Jahren geboren wurde, bis heute fortgesetzt werden. Und mit einem Respekt vor der Leistung unserer Kirche freue ich mich, in diesem Jahr die 400-jährige Wiederkehr des ersten Gottesdienstes an dieser Gottesdienststätte, die unsere Vorfahren damals noch Tempel nannten, zu feiern.

Textgrundlage:

Mein Sohn, vergiss meine Weisung nicht, und dein Herz behalte meine Gebote, denn sie werden dir langes Leben bringen und gute Jahre und Frieden; Gnade und Treue sollen dich nicht verlassen. Hänge meine Gebote an deinen Hals und schreibe sie auf die Tafel deines Herzens, so wirst du Freundlichkeit und Klugheit erlangen, die Gott und den Menschen gefallen. Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen. Dünke dich nicht weise zu sein, sondern fürchte den HERRN und weiche vom Bösen. Das wird deinem Leibe heilsam sein und deine Gebeine erquicken.

Sprüche 3, 1-8

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN, liebe Gäste,

das Gemeindegründungsfest in einem Jahr zu feiern, welches so voll an Jubiläen ist, droht schnell dazu, auch wieder „nur“ ein weiterer Tag im Festkalender zu werden. Natürlich ist es eindrucksvoll, wenn wir uns daran erinnern, dass die Reformationsbemühungen Johannes Calvins, der vor 500 Jahren geboren wurde, bis heute fortgesetzt werden. Und mit einem Respekt vor der Leistung unserer Kirche freue ich mich, in diesem Jahr die 400-jährige Wiederkehr des ersten Gottesdienstes an dieser Gottesdienststätte, die unsere Vorfahren damals noch Tempel nannten, zu feiern.

Aber bei all diesen Jubiläen darf und soll das Zentrum unseres Tuns nicht in Vergessenheit geraten. Und so möchte ich heute am Gemeindegründungstag, an dem wir uns daran erinnern, dass sich vor 412 Jahren Glaubensflüchtlinge hier in Hanau niederließen und ihren Glauben frei und öffentlich leben durften, über drei Eckpfeiler unseres Glaubens predigen: die Bibel, die Tradition und unsere Vernunft. Ich hoffe mal, dass ich Sie begeistern werde und möchte bei der Bibel beginnen.

Ich gebe es offen zu: Ich liebe die Bibel, ohne Einschnitte. Ich bin gerade auch deshalb Theologe geworden, weil es Spaß macht, mit ihr und in ihr zu arbeiten und Gott selbst zu entdecken. Ich habe sie erst im Laufe meines Lebens immer mehr schätzen gelernt. Wir waren zu Hause keine Familie, die regelmäßig die Bibel zur Hand nahm, aber wo gibt es so etwas auch noch in unserer Zeit?

Ja, ich glaube, dass die Bibel Gottes Wort ist. Die Bibel ist die Liebesgeschichte Gottes zu uns Menschen. Sie malt uns ein Bild von Gott, mit dem der Unbeschreibbare zu uns durchdringen möchte. Das Alte Testament zeigt die unendliche Geduld Gottes, der untreuen Menschen immer wieder eine neue Chance gibt und zu sich zurückruft, egal wie weit sie sich entfernt haben. Das Neue Testament zeigt uns, wie weit Gott selbst bereit war zu gehen, indem er auf eine wundersame Art und Weise selbst Mensch wurde und in unserer Zeit uns vom Kreuz her zu sich zurückrief.

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Nur: wie verstehen wir dies als eine nach Gottes Wort reformierte Gemeinde? Als Einzelne? Und wenn wir es verstehen, welchen Raum geben wir den biblischen Lehren in unserem Leben? Es hat einen Grund, dass wir uns in diesen Tagen so schwer mit der Bibel tun: Zu oft vergessen wir, dass die Bibel nicht die vielen schwer verstehbaren Wörter Gottes, sondern das eine Wort Gottes ist – nicht diktiert von einem göttlichen Wesen, sondern bezeugt durch den Heiligen Geist. Die Worte der Schrift sind eine Zusammenfassung von über 1000 Jahren Geschichte der Menschen mit dem lebendigen Gott und seine Worte an uns. Und die Autoren der biblischen Bücher bezeugen vor allem das Handeln Gottes in ihrem Leben und ihre Begegnung mit ihm in der Feuersäule oder von Angesicht zu Angesicht mit Christus.

Es sind Geschichten, die die Geschichte Gottes schreiben, der uns in unserem Leben begleitet und an sein Ziel führen möchte. Sind diese Worte heilig? Absolut! Sind sie vom Heiligen Geist beeinflusst? Daran glaube ich! Und sind sie fehlerfrei? Daran habe ich meine Zweifel, denn die Menschen, die sie aufgeschrieben haben, waren auch nicht fehlerfrei. Es waren gläubige Menschen, die ihr Zeugnis mit ihren Worten in ihrer Zeit ablegten im guten Wissen, Gottes Wille zu beschreiben. Deshalb müssen wir viel Zeit und Mühe für das Verstehen der Wahrheit dahinter aufwenden.

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Und hier komme ich nun zum zweiten Punkt meiner Predigt: die Tradition.
Wenn die Bibel die inspirierte Sammlung und das Zeugnis von gläubigen Menschen über das Handeln Gottes in ihrem Leben ist, dann ist die Tradition die Geschichte, wie die Kirche dies alles verstanden und interpretiert hat, und wie sie die Schriften in ihren Gemeindealltag integriert. Über die letzten 2000 Jahre haben Christen mit aufrichtigen Herzen versucht, die Texte aktuell zu interpretieren und Kirche nach den Maßstäben der Bibel zu leiten und Gott die Ehre zu geben. Auch wurde und wird versucht, vor allem im Alltag, in ihrem Leben, Antworten und Wegweisungen zu geben – all dies versteckt sich hinter dem Wort Tradition.

Auch hier muss die Frage erlaubt sein: Ist die Tradition fehlerfrei? Und auch hier sage ich: natürlich nicht. Denn wenn die Bibel von Menschen verfasst wurde, die sich irren konnten – ohne bösen Willen – dann gilt dies zu recht auch von der Tradition. Das Leben unserer Vorfahren war nicht perfekt, also können es auch nicht ihre Interpretationen gewesen sein. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns manche Irrtümer: Kreuzzüge, Hexenverfolgung, kirchlich unterstützte Kriege für „Gott und Vaterland“, die Glaubensverfolgungen auch unter evangelischen Christen. Ganz zu schweigen über manche Irrlehren, z. B. über die Natur Christi, die Ewigkeit oder das Sein Gottes. Und alle beriefen sich auf die Bibel und dabei entfernten sie sich mit jeder Kugel und jedem Toten immer mehr.

Und doch ist Tradition auch etwas Wichtiges! Denn – und da bin ich gerne auch etwas selbstkritisch – wir sind oft viel zu schnell der Meinung, dass wir mehr wüssten als irgendjemand sonst, dass unsere Ideen und Eindrücke alle anderen übertrumpfen. Die Tradition und vor allem die Wahrer derselbigen schützen uns vor manchem Schnellschuss. Wir müssen verstehen, was unsere Vorfahren über Gott und seine Gemeinde gedacht haben, bevor wir zu schnell Dinge ändern. Denn das Ziel ist niemals die Veränderung, sondern die Nähe zu Gottes Willen in dieser Zeit. Als Kirche dürfen wir deshalb nicht leichtfertig Dinge ändern, dürfen aber auch nicht auf die Bremse treten in der Meinung, vor 500 Jahren sei bei der Reformation schon genug verändert worden, das solle für die nächsten 1000 Jahre erst einmal genügen.

Und im Rückblick auf die Tradition dürften wir als reformierte Kirche auch mutiger werden. Denn viele Umbrüche haben wir geschafft, und wir haben vielleicht aus den Augen verloren, wie progressiv sie zur betreffenden Zeit waren. Einige wenige Beispiele nur: Die Leitung der Gemeinde nicht alleine durch einen Pfarrer, sondern kollegial. Die Kirchensprache nicht mehr Latein. Die Gleichberechtigung von Frauen in den Ämtern. Der Umgang mit unehelichen Kindern, Scheidungen, Wiederverheirateten. Überall dort hat sich manche Tradition geändert. Ich kann mir z. B. nicht vorstellen, dass vor hundert Jahren eine Frau Präses-Älteste hätte werden können oder dass ein Geschiedener zum Abendmahl zugelassen worden wäre.

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Ja, wir haben uns geändert. Haben in Fällen der Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen vielleicht eingesehen, dass Kirche früher oft dann Menschen hat alleine und fallen gelassen, wenn sie gerade die Unterstützung und Nähe gebraucht haben. Wenn wir in unserem Herzen spüren, von welchen Veränderungen wir selbst profitieren, dann sollte dies unser Herz auch für anderes und Neues öffnen – in einer lebendigen und einladenden Kirche wie der unsrigen. Unsere Herkunft ist unsere Zukunft.

Die Bibel ist nicht der Schlusspunkt von Gottes Wort an uns. Deshalb ist mein Glaube, dass Gott auch heute noch spricht, auch in diesem Augenblick, und dass alle Veränderungen durch die Leitung des Heiligen Geistes geschehen, der in uns Menschen wirkt und unsere Herzen öffnet. Gott ändert nicht seine Meinung, aber der Mensch wächst im Verstehen seines Willens, je mehr er sich mit Gott und seinem Wort beschäftigt.

Das ist die gute Nachricht für uns heute Morgen: Gott hat nicht aufgehört, sich uns selbst mitzuteilen, nur weil der Umfang der Bibel, der Schriftenkanon als abgeschlossen gilt. Bis heute redet Gott noch sehr aktiv mit uns Menschen, wir müssen nur wieder neu lernen, auf ihn zu hören, auch auf die Propheten unter uns. Es ist der Heilige Geist in seiner Kirche, den Jesus uns allen noch in der Nacht vor seinem Tod verheißen hat.

Die Bibel also ist das Zeugnis des Göttlichen, von Menschen geschrieben, die und denen Gott nahe gekommen sind/ist und die in den für sie besten Worten von diesen Begegnungen berichten durch Gottes Geist.

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Die Tradition ist die über 2000-jährige Geschichte der Kirche, wie wir mit der Bibel umgegangen sind, welche Lehren wir gezogen haben und die davon berichtet, wie Menschen ergriffen worden sind und manch Althergebrachtes auf den Kopf gestellt haben, getrieben durch den Heiligen Geist.

Und dies bringt mich nun schließlich zum letzten Punkt der Predigt: unsere menschliche Vernunft oder Einsicht. Sie scheinen die Autorität in unserem täglichen Leben zu sein. Wir müssen nicht in den Tag und die Zeit hinein leben, sondern dürfen uns geborgen wissen in einer Gemeinschaft von denkenden Glaubenden. Und vom Heiligen Geist geführt vermag die Einsicht und Vernunft Dinge, Abläufe und Denkweisen zu verändern, die wir vielleicht für Jahrhunderte als normal angesehen haben. Durch die Vernunft sind wir mündige Menschen, die mitreden und gestalten sollten. Und wir sollten auch viel öfter auf diese Stimmen in uns hören, diese Gefühle, die uns an unsere Menschlichkeit erinnern, an Scham und das schlechte Gewissen, Dank und Hoffnung – manches Mal Ausdrücke des Heiligen Geistes in uns.

Die gute Nachricht des heutigen Tages für Sie alle ist: Wir beten keinen Gott an, der sich selbst in seine Bibel eingeschlossen hat, noch einen Gott, den wir in unsere Tradition einschließen könnten. Wir glauben an und beten zu einem Gott, der lebendig ist und aktiv in unserer Mitte, der uns und unsere Kirche leiten möchte: weiter in die Zukunft und tiefer in seine Wahrheit. Und weiter in ihrem Denken und ihren Einsichten.

Um diesen Gott kennen zu lernen, müssen wir immer wieder an die Quelle zurückkehren, die Bibel, welche nach Christus, der vollen Offenbarung Gottes, unsere Grundlage als Kirche ist. Dann lohnt sich ein Blick in die Tradition, wie sie ihren Glauben durch die Jahrhunderte gelebt hat. Und vielleicht erschließt es sich uns, was dies für uns heute bedeutet. Dann können wir gemeinsam – nicht einer für sich – Veränderungen wagen. Dann wird diese Kirche, getragen von offenem Herzen und weitem Verstand, begleitet durch das Gebet und die Bitte um den Heiligen Geist, erfolgreich noch hoffentlich viele Jahrhunderte in die Zukunft gehen. 412 Jahre hatten wir keine Abspaltung, sondern haben die Lehren bewahrt und verteidigt.

Ja, ich liebe die Bibel. In ihr sehe ich meinen Glauben und meine Entscheidungen gegründet. In ihr habe ich Christus kennen gelernt und durch sie erkenne ich, wo Gott auch in meinem Leben wirkt. In ihr erfahre ich und jeder, der sie liest, dass wir alle eingeladen sind in Gottes Liebe und Nähe. Dies kann ich spüren. Die Bibel erinnert mich immer wieder daran, wer ich bin, wem ich diene und dass Gott sich an meine Seite stellt. Sie versichert mir, dass Gott mich niemals vergessen wird, auch wenn ich Ihn vergessen sollte. Gott hat mit jedem einzelnen von uns etwas Großartiges vor, er lädt uns nun ein an seinen Tisch, damit wir im Glauben gestärkt mutig der Zukunft entgegen gehen können. Im Namen Jesu Christi. Amen!


Pfarrer Torben W. Telder, vdm
-es gilt das gesprochene Wort-